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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

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scheinen, fallen in fabelhafte Zeiten, wenn wir auf die Ge-
schichte unseres Geschlechtes zwischen Orinoko und Amazonen-
fluß blicken. Wir finden dort auf Felsen symbolische Bilder,
aber keine Sage gibt über ihren Ursprung Aufschluß. Im
heißen Striche von Guyana kommen wir nicht weiter zurück
als zu der Zeit, wo kastilianische und portugiesische Eroberer,
und später friedliche Mönche unter den barbarischen Völker-
schaften auftraten.

Nordwärts von den Katarakten, am Engpaß beim Ba-
raguan, scheint es ähnliche mit Knochen gefüllte Höhlen zu
geben wie die oben beschriebenen. Ich hörte dies erst nach
meiner Rückkehr, und die indianischen Steuerleute sagten uns
nichts davon, als wir im Engpaß anlegten. Diese Gräber
haben ohne Zweifel Anlaß zu einer Sage der Otomaken ge-
geben, nach der die einzeln stehenden Granitfelsen am Ba-
raguan, die sehr seltsame Gestalten zeigen, die Großväter,
die alten Häuptlinge des Stammes sind. Der Brauch,
das Fleisch sorgfältig von den Knochen zu trennen, der im
Altertum bei den Massageten herrschte, hat sich bei mehreren
Horden am Orinoko erhalten. Man behauptet sogar, und es
ist ganz wahrscheinlich, die Guaranos legen die Leichen in
Netzen ins Wasser, wo dann die kleinen Karibenfische, die
"Serra-Solmes", die wir überall in ungeheurer Menge an-
trafen, in wenigen Tagen das Muskelfleisch verzehren und
das Skelett "präparieren". Begreiflich ist solches nur an
Orten thunlich, wo es nicht viele Krokodile gibt. Manche
Stämme, z. B. die Tamanaken, haben den Brauch, die Felder
des Verstorbenen zu verwüsten und die Bäume, die er ge-
pflanzt, umzuhauen. Sie sagen, "Dinge sehen zu müssen,
die Eigentum ihrer Angehörigen gewesen, mache traurig".
Sie vernichten das Andenken lieber, als daß sie es erhalten.
Diese indianische Empfindsamkeit wirkt sehr nachteilig auf
den Landbau, und die Mönche widersetzen sich mit Macht den
abergläubischen Gebräuchen, welche die zum Christentum be-
kehrten Eingeborenen in den Missionen beibehalten.

Die indianischen Gräber am Orinoko sind bis jetzt nicht
gehörig untersucht worden, weil sie keine Kostbarkeiten ent-
halten wie die in Peru, und weil man jetzt an Ort und
Stelle an die früheren Mären vom Reichtum der alten Ein-
wohner des Dorado nicht mehr glaubt. Der Golddurst geht
allerorten dem Trieb zur Belehrung und dem Sinn für
Erforschung des Altertums voraus. Im gebirgigen Teil von

ſcheinen, fallen in fabelhafte Zeiten, wenn wir auf die Ge-
ſchichte unſeres Geſchlechtes zwiſchen Orinoko und Amazonen-
fluß blicken. Wir finden dort auf Felſen ſymboliſche Bilder,
aber keine Sage gibt über ihren Urſprung Aufſchluß. Im
heißen Striche von Guyana kommen wir nicht weiter zurück
als zu der Zeit, wo kaſtilianiſche und portugieſiſche Eroberer,
und ſpäter friedliche Mönche unter den barbariſchen Völker-
ſchaften auftraten.

Nordwärts von den Katarakten, am Engpaß beim Ba-
raguan, ſcheint es ähnliche mit Knochen gefüllte Höhlen zu
geben wie die oben beſchriebenen. Ich hörte dies erſt nach
meiner Rückkehr, und die indianiſchen Steuerleute ſagten uns
nichts davon, als wir im Engpaß anlegten. Dieſe Gräber
haben ohne Zweifel Anlaß zu einer Sage der Otomaken ge-
geben, nach der die einzeln ſtehenden Granitfelſen am Ba-
raguan, die ſehr ſeltſame Geſtalten zeigen, die Großväter,
die alten Häuptlinge des Stammes ſind. Der Brauch,
das Fleiſch ſorgfältig von den Knochen zu trennen, der im
Altertum bei den Maſſageten herrſchte, hat ſich bei mehreren
Horden am Orinoko erhalten. Man behauptet ſogar, und es
iſt ganz wahrſcheinlich, die Guaranos legen die Leichen in
Netzen ins Waſſer, wo dann die kleinen Karibenfiſche, die
„Serra-Solmes“, die wir überall in ungeheurer Menge an-
trafen, in wenigen Tagen das Muskelfleiſch verzehren und
das Skelett „präparieren“. Begreiflich iſt ſolches nur an
Orten thunlich, wo es nicht viele Krokodile gibt. Manche
Stämme, z. B. die Tamanaken, haben den Brauch, die Felder
des Verſtorbenen zu verwüſten und die Bäume, die er ge-
pflanzt, umzuhauen. Sie ſagen, „Dinge ſehen zu müſſen,
die Eigentum ihrer Angehörigen geweſen, mache traurig“.
Sie vernichten das Andenken lieber, als daß ſie es erhalten.
Dieſe indianiſche Empfindſamkeit wirkt ſehr nachteilig auf
den Landbau, und die Mönche widerſetzen ſich mit Macht den
abergläubiſchen Gebräuchen, welche die zum Chriſtentum be-
kehrten Eingeborenen in den Miſſionen beibehalten.

Die indianiſchen Gräber am Orinoko ſind bis jetzt nicht
gehörig unterſucht worden, weil ſie keine Koſtbarkeiten ent-
halten wie die in Peru, und weil man jetzt an Ort und
Stelle an die früheren Mären vom Reichtum der alten Ein-
wohner des Dorado nicht mehr glaubt. Der Golddurſt geht
allerorten dem Trieb zur Belehrung und dem Sinn für
Erforſchung des Altertums voraus. Im gebirgigen Teil von

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[115/0123] ſcheinen, fallen in fabelhafte Zeiten, wenn wir auf die Ge- ſchichte unſeres Geſchlechtes zwiſchen Orinoko und Amazonen- fluß blicken. Wir finden dort auf Felſen ſymboliſche Bilder, aber keine Sage gibt über ihren Urſprung Aufſchluß. Im heißen Striche von Guyana kommen wir nicht weiter zurück als zu der Zeit, wo kaſtilianiſche und portugieſiſche Eroberer, und ſpäter friedliche Mönche unter den barbariſchen Völker- ſchaften auftraten. Nordwärts von den Katarakten, am Engpaß beim Ba- raguan, ſcheint es ähnliche mit Knochen gefüllte Höhlen zu geben wie die oben beſchriebenen. Ich hörte dies erſt nach meiner Rückkehr, und die indianiſchen Steuerleute ſagten uns nichts davon, als wir im Engpaß anlegten. Dieſe Gräber haben ohne Zweifel Anlaß zu einer Sage der Otomaken ge- geben, nach der die einzeln ſtehenden Granitfelſen am Ba- raguan, die ſehr ſeltſame Geſtalten zeigen, die Großväter, die alten Häuptlinge des Stammes ſind. Der Brauch, das Fleiſch ſorgfältig von den Knochen zu trennen, der im Altertum bei den Maſſageten herrſchte, hat ſich bei mehreren Horden am Orinoko erhalten. Man behauptet ſogar, und es iſt ganz wahrſcheinlich, die Guaranos legen die Leichen in Netzen ins Waſſer, wo dann die kleinen Karibenfiſche, die „Serra-Solmes“, die wir überall in ungeheurer Menge an- trafen, in wenigen Tagen das Muskelfleiſch verzehren und das Skelett „präparieren“. Begreiflich iſt ſolches nur an Orten thunlich, wo es nicht viele Krokodile gibt. Manche Stämme, z. B. die Tamanaken, haben den Brauch, die Felder des Verſtorbenen zu verwüſten und die Bäume, die er ge- pflanzt, umzuhauen. Sie ſagen, „Dinge ſehen zu müſſen, die Eigentum ihrer Angehörigen geweſen, mache traurig“. Sie vernichten das Andenken lieber, als daß ſie es erhalten. Dieſe indianiſche Empfindſamkeit wirkt ſehr nachteilig auf den Landbau, und die Mönche widerſetzen ſich mit Macht den abergläubiſchen Gebräuchen, welche die zum Chriſtentum be- kehrten Eingeborenen in den Miſſionen beibehalten. Die indianiſchen Gräber am Orinoko ſind bis jetzt nicht gehörig unterſucht worden, weil ſie keine Koſtbarkeiten ent- halten wie die in Peru, und weil man jetzt an Ort und Stelle an die früheren Mären vom Reichtum der alten Ein- wohner des Dorado nicht mehr glaubt. Der Golddurſt geht allerorten dem Trieb zur Belehrung und dem Sinn für Erforſchung des Altertums voraus. Im gebirgigen Teil von

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/123>, abgerufen am 24.11.2024.