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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

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die Varietäten des Menschengeschlechts gezeichnet; aber die
Skelette der Indianer gingen mit einem bedeutenden Teil
unserer Sammlungen an der Küste von Afrika bei einem
Schiffbruch verloren, der unserem Freunde und Reisegefährten,
Fray Juan Gonzales, einem jungen Franziskaner, das Leben
kostete.

Schweigend gingen wir von der Höhle von Ataruipe
nach Hause. Es war eine der stillen, heiteren Nächte, welche
im heißen Erdstrich so gewöhnlich sind. Die Sterne glänzten
in mildem, planetarischem Licht. Ein Funkeln war kaum am
Horizont bemerkbar, den die großen Nebelflecken der südlichen
Halbkugel zu beleuchten schienen. Ungeheure Insektenschwärme
verbreiteten ein rötliches Licht in der Luft. Der dichtbewach-
sene Boden glühte von lebendigem Feuer, als hätte sich die
gestirnte Himmelsdecke auf die Grasflur niedergesenkt. Vor
der Höhle blieben wir noch öfters stehen und bewunderten
den Reiz des merkwürdigen Ortes. Duftende Vanille und
Bignonien schmückten den Eingang, und darüber, auf der Spitze
des Hügels, wiegten sich säuselnd die Schafte der Palmen.

Wir gingen an den Fluß hinab und schlugen den Weg
zur Mission ein, wo wir ziemlich spät in der Nacht eintrafen.
Was wir gesehen, hatte starken Eindruck auf unsere Einbil-
dungskraft gemacht. In einem Lande, wo einem die mensch-
liche Gesellschaft als eine Schöpfung der neuesten Zeit er-
scheint, hat alles, was an eine Vergangenheit erinnert,
doppelten Reiz. Sehr alt waren nun hier die Erinnerungen
nicht; aber in allem, was Denkmal heißt, ist das Alter nur
ein relativer Begriff, und leicht verwechseln wir alt und
rätselhaft. Den Aegyptern erschienen die geschichtlichen Er-
innerungen der Griechen gar jung; hätten die Chinesen, oder
wie sie sich selbst lieber nennen, die Bewohner des "himm-
lischen Reiches", mit den Priestern von Heliopolis verkehren
können, so hätten sie wohl zu den Ansprüchen der alten
Aegypter gelacht. Ebenso auffallende Gegensätze finden sich
im nördlichen Europa und Asien, in der Neuen Welt, überall,
wo die Menschheit sich auf ihr eigenes Leben nicht weit zu-
rückbesinnt. Auf der Hochebene von Anahuac reicht die älteste
geschichtliche Begebenheit, die Wanderung der Tolteken, nicht
über das 6. Jahrhundert unserer Zeitrechnung hinauf. Die
unentbehrlichen Grundlagen einer genauen Zeitrechnung, ein
gutes Schaltsystem, überhaupt die Kalenderreform stammen
aus dem Jahr 1091. Diese Zeitpunkte, die uns so nahe

die Varietäten des Menſchengeſchlechts gezeichnet; aber die
Skelette der Indianer gingen mit einem bedeutenden Teil
unſerer Sammlungen an der Küſte von Afrika bei einem
Schiffbruch verloren, der unſerem Freunde und Reiſegefährten,
Fray Juan Gonzales, einem jungen Franziskaner, das Leben
koſtete.

Schweigend gingen wir von der Höhle von Ataruipe
nach Hauſe. Es war eine der ſtillen, heiteren Nächte, welche
im heißen Erdſtrich ſo gewöhnlich ſind. Die Sterne glänzten
in mildem, planetariſchem Licht. Ein Funkeln war kaum am
Horizont bemerkbar, den die großen Nebelflecken der ſüdlichen
Halbkugel zu beleuchten ſchienen. Ungeheure Inſektenſchwärme
verbreiteten ein rötliches Licht in der Luft. Der dichtbewach-
ſene Boden glühte von lebendigem Feuer, als hätte ſich die
geſtirnte Himmelsdecke auf die Grasflur niedergeſenkt. Vor
der Höhle blieben wir noch öfters ſtehen und bewunderten
den Reiz des merkwürdigen Ortes. Duftende Vanille und
Bignonien ſchmückten den Eingang, und darüber, auf der Spitze
des Hügels, wiegten ſich ſäuſelnd die Schafte der Palmen.

Wir gingen an den Fluß hinab und ſchlugen den Weg
zur Miſſion ein, wo wir ziemlich ſpät in der Nacht eintrafen.
Was wir geſehen, hatte ſtarken Eindruck auf unſere Einbil-
dungskraft gemacht. In einem Lande, wo einem die menſch-
liche Geſellſchaft als eine Schöpfung der neueſten Zeit er-
ſcheint, hat alles, was an eine Vergangenheit erinnert,
doppelten Reiz. Sehr alt waren nun hier die Erinnerungen
nicht; aber in allem, was Denkmal heißt, iſt das Alter nur
ein relativer Begriff, und leicht verwechſeln wir alt und
rätſelhaft. Den Aegyptern erſchienen die geſchichtlichen Er-
innerungen der Griechen gar jung; hätten die Chineſen, oder
wie ſie ſich ſelbſt lieber nennen, die Bewohner des „himm-
liſchen Reiches“, mit den Prieſtern von Heliopolis verkehren
können, ſo hätten ſie wohl zu den Anſprüchen der alten
Aegypter gelacht. Ebenſo auffallende Gegenſätze finden ſich
im nördlichen Europa und Aſien, in der Neuen Welt, überall,
wo die Menſchheit ſich auf ihr eigenes Leben nicht weit zu-
rückbeſinnt. Auf der Hochebene von Anahuac reicht die älteſte
geſchichtliche Begebenheit, die Wanderung der Tolteken, nicht
über das 6. Jahrhundert unſerer Zeitrechnung hinauf. Die
unentbehrlichen Grundlagen einer genauen Zeitrechnung, ein
gutes Schaltſyſtem, überhaupt die Kalenderreform ſtammen
aus dem Jahr 1091. Dieſe Zeitpunkte, die uns ſo nahe

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[114/0122] die Varietäten des Menſchengeſchlechts gezeichnet; aber die Skelette der Indianer gingen mit einem bedeutenden Teil unſerer Sammlungen an der Küſte von Afrika bei einem Schiffbruch verloren, der unſerem Freunde und Reiſegefährten, Fray Juan Gonzales, einem jungen Franziskaner, das Leben koſtete. Schweigend gingen wir von der Höhle von Ataruipe nach Hauſe. Es war eine der ſtillen, heiteren Nächte, welche im heißen Erdſtrich ſo gewöhnlich ſind. Die Sterne glänzten in mildem, planetariſchem Licht. Ein Funkeln war kaum am Horizont bemerkbar, den die großen Nebelflecken der ſüdlichen Halbkugel zu beleuchten ſchienen. Ungeheure Inſektenſchwärme verbreiteten ein rötliches Licht in der Luft. Der dichtbewach- ſene Boden glühte von lebendigem Feuer, als hätte ſich die geſtirnte Himmelsdecke auf die Grasflur niedergeſenkt. Vor der Höhle blieben wir noch öfters ſtehen und bewunderten den Reiz des merkwürdigen Ortes. Duftende Vanille und Bignonien ſchmückten den Eingang, und darüber, auf der Spitze des Hügels, wiegten ſich ſäuſelnd die Schafte der Palmen. Wir gingen an den Fluß hinab und ſchlugen den Weg zur Miſſion ein, wo wir ziemlich ſpät in der Nacht eintrafen. Was wir geſehen, hatte ſtarken Eindruck auf unſere Einbil- dungskraft gemacht. In einem Lande, wo einem die menſch- liche Geſellſchaft als eine Schöpfung der neueſten Zeit er- ſcheint, hat alles, was an eine Vergangenheit erinnert, doppelten Reiz. Sehr alt waren nun hier die Erinnerungen nicht; aber in allem, was Denkmal heißt, iſt das Alter nur ein relativer Begriff, und leicht verwechſeln wir alt und rätſelhaft. Den Aegyptern erſchienen die geſchichtlichen Er- innerungen der Griechen gar jung; hätten die Chineſen, oder wie ſie ſich ſelbſt lieber nennen, die Bewohner des „himm- liſchen Reiches“, mit den Prieſtern von Heliopolis verkehren können, ſo hätten ſie wohl zu den Anſprüchen der alten Aegypter gelacht. Ebenſo auffallende Gegenſätze finden ſich im nördlichen Europa und Aſien, in der Neuen Welt, überall, wo die Menſchheit ſich auf ihr eigenes Leben nicht weit zu- rückbeſinnt. Auf der Hochebene von Anahuac reicht die älteſte geſchichtliche Begebenheit, die Wanderung der Tolteken, nicht über das 6. Jahrhundert unſerer Zeitrechnung hinauf. Die unentbehrlichen Grundlagen einer genauen Zeitrechnung, ein gutes Schaltſyſtem, überhaupt die Kalenderreform ſtammen aus dem Jahr 1091. Dieſe Zeitpunkte, die uns ſo nahe

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/122>, abgerufen am 24.11.2024.