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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

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der menschliche Körper erlitten, weniger geeignet, weil es
dabei an einem Nervenreiz fehlt. Das Opium, das nicht nährt,
wird in Asien mit Erfolg bei großer Hungersnot gebraucht:
es wirkt als tonisches Mittel. Ist aber der Stoff, der den
Magen füllt, weder als ein Nahrungsmittel, das heißt, als
assimilierbar, noch als ein tonischer Nervenreiz zu betrachten,
so rührt die Beschwichtigung wahrscheinlich von der reichlichen
Absonderung des Magensaftes her. Wir berühren hier ein
Gebiet der Physiologie, auf dem noch manches dunkel ist.
Der Hunger wird beschwichtigt, das unangenehme Gefühl der
Leere hört auf, sobald der Magen angefüllt ist. Man sagt,
der Magen müsse Ballast haben; in allen Sprachen gibt es
figürliche Ausdrücke für die Vorstellung, daß eine mechanische
Ausdehnung des Magens ein angenehmes Gefühl verursacht.
Zum Teil noch in ganz neuen physiologischen Werken ist von
der schmerzhaften Zusammenziehung des Magens im Hunger,
von der Reibung der Magenwände aneinander, von der Wir-
kung des sauren Magensaftes auf das Gewebe der Ver-
dauungsorgane die Rede. Bichats Beobachtungen, besonders
aber Magendies interessante Versuche widersprechen diesen
veralteten Vorstellungen. Nach 24-, 48-, sogar 60stündiger
Entziehung aller Nahrungsmittel beobachtet man noch keine
Zusammenziehung des Magens; erst am vierten und fünften
Tage scheinen die Dimensionen des Organes etwas abzunehmen.
Je länger die Nahrungsentziehung dauert, desto mehr ver-
mindert sich der Magensaft. Derselbe häuft sich keineswegs
an, er wird vielmehr wahrscheinlich wie ein Nahrungsmittel
verdaut. Läßt man Katzen oder Hunde einen unverdaulichen
Körper, z. B. einen Kiesel schlucken, so wird in die Magen-
höhle in Menge eine schleimige, saure Flüssigkeit ausgesondert,
die nach ihrer Zusammensetzung dem menschlichen Magensafte
nahe steht. Nach diesen Thatsachen scheint es mir wahrschein-
lich, daß, wenn der Mangel an Nahrungsstoff die Otomaken
und die Neukaledonier antreibt, einen Teil des Jahres hin-
durch Thon und Speckstein zu verschlingen, diese Erden im
Verdauungsapparat dieser Menschen eine vermehrte Absonde-
rung der eigentümlichen Säfte des Magens und der Bauch-
speicheldrüse zur Folge haben. Meine Beobachtungen am
Orinoko wurden in neuester Zeit durch direkte Versuche zweier
ausgezeichneter junger Physiologen, Hippolyt Cloquet und
Breschet, bestätigt. Sie ließen sich hungrig werden und aßen
dann fünf Unzen eines grünlich silberfarbigen, blätterigen,

A. v. Humboldt, Reise. IV. 9

der menſchliche Körper erlitten, weniger geeignet, weil es
dabei an einem Nervenreiz fehlt. Das Opium, das nicht nährt,
wird in Aſien mit Erfolg bei großer Hungersnot gebraucht:
es wirkt als toniſches Mittel. Iſt aber der Stoff, der den
Magen füllt, weder als ein Nahrungsmittel, das heißt, als
aſſimilierbar, noch als ein toniſcher Nervenreiz zu betrachten,
ſo rührt die Beſchwichtigung wahrſcheinlich von der reichlichen
Abſonderung des Magenſaftes her. Wir berühren hier ein
Gebiet der Phyſiologie, auf dem noch manches dunkel iſt.
Der Hunger wird beſchwichtigt, das unangenehme Gefühl der
Leere hört auf, ſobald der Magen angefüllt iſt. Man ſagt,
der Magen müſſe Ballaſt haben; in allen Sprachen gibt es
figürliche Ausdrücke für die Vorſtellung, daß eine mechaniſche
Ausdehnung des Magens ein angenehmes Gefühl verurſacht.
Zum Teil noch in ganz neuen phyſiologiſchen Werken iſt von
der ſchmerzhaften Zuſammenziehung des Magens im Hunger,
von der Reibung der Magenwände aneinander, von der Wir-
kung des ſauren Magenſaftes auf das Gewebe der Ver-
dauungsorgane die Rede. Bichats Beobachtungen, beſonders
aber Magendies intereſſante Verſuche widerſprechen dieſen
veralteten Vorſtellungen. Nach 24-, 48-, ſogar 60ſtündiger
Entziehung aller Nahrungsmittel beobachtet man noch keine
Zuſammenziehung des Magens; erſt am vierten und fünften
Tage ſcheinen die Dimenſionen des Organes etwas abzunehmen.
Je länger die Nahrungsentziehung dauert, deſto mehr ver-
mindert ſich der Magenſaft. Derſelbe häuft ſich keineswegs
an, er wird vielmehr wahrſcheinlich wie ein Nahrungsmittel
verdaut. Läßt man Katzen oder Hunde einen unverdaulichen
Körper, z. B. einen Kieſel ſchlucken, ſo wird in die Magen-
höhle in Menge eine ſchleimige, ſaure Flüſſigkeit ausgeſondert,
die nach ihrer Zuſammenſetzung dem menſchlichen Magenſafte
nahe ſteht. Nach dieſen Thatſachen ſcheint es mir wahrſchein-
lich, daß, wenn der Mangel an Nahrungsſtoff die Otomaken
und die Neukaledonier antreibt, einen Teil des Jahres hin-
durch Thon und Speckſtein zu verſchlingen, dieſe Erden im
Verdauungsapparat dieſer Menſchen eine vermehrte Abſonde-
rung der eigentümlichen Säfte des Magens und der Bauch-
ſpeicheldrüſe zur Folge haben. Meine Beobachtungen am
Orinoko wurden in neueſter Zeit durch direkte Verſuche zweier
ausgezeichneter junger Phyſiologen, Hippolyt Cloquet und
Breſchet, beſtätigt. Sie ließen ſich hungrig werden und aßen
dann fünf Unzen eines grünlich ſilberfarbigen, blätterigen,

A. v. Humboldt, Reiſe. IV. 9
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[129/0137] der menſchliche Körper erlitten, weniger geeignet, weil es dabei an einem Nervenreiz fehlt. Das Opium, das nicht nährt, wird in Aſien mit Erfolg bei großer Hungersnot gebraucht: es wirkt als toniſches Mittel. Iſt aber der Stoff, der den Magen füllt, weder als ein Nahrungsmittel, das heißt, als aſſimilierbar, noch als ein toniſcher Nervenreiz zu betrachten, ſo rührt die Beſchwichtigung wahrſcheinlich von der reichlichen Abſonderung des Magenſaftes her. Wir berühren hier ein Gebiet der Phyſiologie, auf dem noch manches dunkel iſt. Der Hunger wird beſchwichtigt, das unangenehme Gefühl der Leere hört auf, ſobald der Magen angefüllt iſt. Man ſagt, der Magen müſſe Ballaſt haben; in allen Sprachen gibt es figürliche Ausdrücke für die Vorſtellung, daß eine mechaniſche Ausdehnung des Magens ein angenehmes Gefühl verurſacht. Zum Teil noch in ganz neuen phyſiologiſchen Werken iſt von der ſchmerzhaften Zuſammenziehung des Magens im Hunger, von der Reibung der Magenwände aneinander, von der Wir- kung des ſauren Magenſaftes auf das Gewebe der Ver- dauungsorgane die Rede. Bichats Beobachtungen, beſonders aber Magendies intereſſante Verſuche widerſprechen dieſen veralteten Vorſtellungen. Nach 24-, 48-, ſogar 60ſtündiger Entziehung aller Nahrungsmittel beobachtet man noch keine Zuſammenziehung des Magens; erſt am vierten und fünften Tage ſcheinen die Dimenſionen des Organes etwas abzunehmen. Je länger die Nahrungsentziehung dauert, deſto mehr ver- mindert ſich der Magenſaft. Derſelbe häuft ſich keineswegs an, er wird vielmehr wahrſcheinlich wie ein Nahrungsmittel verdaut. Läßt man Katzen oder Hunde einen unverdaulichen Körper, z. B. einen Kieſel ſchlucken, ſo wird in die Magen- höhle in Menge eine ſchleimige, ſaure Flüſſigkeit ausgeſondert, die nach ihrer Zuſammenſetzung dem menſchlichen Magenſafte nahe ſteht. Nach dieſen Thatſachen ſcheint es mir wahrſchein- lich, daß, wenn der Mangel an Nahrungsſtoff die Otomaken und die Neukaledonier antreibt, einen Teil des Jahres hin- durch Thon und Speckſtein zu verſchlingen, dieſe Erden im Verdauungsapparat dieſer Menſchen eine vermehrte Abſonde- rung der eigentümlichen Säfte des Magens und der Bauch- ſpeicheldrüſe zur Folge haben. Meine Beobachtungen am Orinoko wurden in neueſter Zeit durch direkte Verſuche zweier ausgezeichneter junger Phyſiologen, Hippolyt Cloquet und Breſchet, beſtätigt. Sie ließen ſich hungrig werden und aßen dann fünf Unzen eines grünlich ſilberfarbigen, blätterigen, A. v. Humboldt, Reiſe. IV. 9

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/137>, abgerufen am 21.11.2024.