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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

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Natur so gewaltig und furchtbar erscheint, ist der Mensch be-
ständig gegen die Gefahr gerüstet. Wir haben oben erwähnt,
was das junge indianische Mädchen sagte, das sich selbst aus
dem Rachen des Krokodils losgemacht: "Ich wußte, daß es
mich fahren ließ, wenn ich ihm die Finger in die Augen
drückte." Dieses Mädchen gehörte der dürftigen Volksklasse
an, wo die Gewöhnung an physische Not die moralische Kraft
steigert; es ist aber wahrhaft überraschend, wenn man in von
schrecklichen Erdbeben zerrütteten Ländern, auf der Hochebene
von Quito, Frauen aus den höchsten Gesellschaftsklassen im
Augenblick der Gefahr dieselbe Kaltblütigkeit, dieselbe über-
legte Entschlossenheit entwickeln sieht.

Ich gebe zum Beleg dafür nur ein Beispiel. Als am
4. Februar 1797 36000 Indianer in wenigen Minuten ihren
Tod fanden, rettete eine junge Mutter sich und ihre Kinder
dadurch, daß sie im Augenblick, wo der geborstene Boden sie
verschlingen wollte, ihnen zurief, die Arme auszustrecken. Als
man gegen das mutige Weib Verwunderung über eine so
außerordentliche Geistesgegenwart äußerte, erwiderte sie ganz
einfach: "Ich habe von Jugend auf gehört: überrascht dich
das Erdbeben im Hause, so stelle dich unter die Verbindungs-
thür zwischen zwei Zimmern; bist du im Freien und fühlst
du, daß der Boden unter dir sich aufthut, so strecke beide
Arme aus und suche dich an den Rändern der Spalte zu
halten." So ist der Mensch in diesen wilden oder häufigen
Zerrüttungen unterworfenen Ländern gerüstet, den Tieren des
Waldes entgegenzutreten, sich aus dem Rachen der Krokodile
zu befreien, sich aus dem Kampfe der Elemente zu retten.

So oft in sehr heißen und nassen Jahren bösartige
Fieber in Angostura herrschen, streitet man darüber, ob die
Regierung wohl gethan, die Stadt von Vieja Guyana
an den Engpaß zwischen der Insel Maruanta und dem
Einfluß des Rio Orocopiche zu verlegen. Man behauptet,
der alten Stadt seien, da sie näher an der See gelegen, die
kühlen Seewinde mehr zu gute gekommen, und die große
Sterblichkeit, die dort geherrscht, sei nicht sowohl örtlichen Ur-
sachen als der Lebensweise der Einwohner zuzuschreiben ge-
wesen. An den fruchtbaren, feuchten Ufern des Orinoko unter-
halb des Einflusses des Carony wachsen in überschwenglicher
Menge Wassermelonen (Patillas), Bananen und Papayas. 1

1 Die Frucht der Carica Papaya.

Natur ſo gewaltig und furchtbar erſcheint, iſt der Menſch be-
ſtändig gegen die Gefahr gerüſtet. Wir haben oben erwähnt,
was das junge indianiſche Mädchen ſagte, das ſich ſelbſt aus
dem Rachen des Krokodils losgemacht: „Ich wußte, daß es
mich fahren ließ, wenn ich ihm die Finger in die Augen
drückte.“ Dieſes Mädchen gehörte der dürftigen Volksklaſſe
an, wo die Gewöhnung an phyſiſche Not die moraliſche Kraft
ſteigert; es iſt aber wahrhaft überraſchend, wenn man in von
ſchrecklichen Erdbeben zerrütteten Ländern, auf der Hochebene
von Quito, Frauen aus den höchſten Geſellſchaftsklaſſen im
Augenblick der Gefahr dieſelbe Kaltblütigkeit, dieſelbe über-
legte Entſchloſſenheit entwickeln ſieht.

Ich gebe zum Beleg dafür nur ein Beiſpiel. Als am
4. Februar 1797 36000 Indianer in wenigen Minuten ihren
Tod fanden, rettete eine junge Mutter ſich und ihre Kinder
dadurch, daß ſie im Augenblick, wo der geborſtene Boden ſie
verſchlingen wollte, ihnen zurief, die Arme auszuſtrecken. Als
man gegen das mutige Weib Verwunderung über eine ſo
außerordentliche Geiſtesgegenwart äußerte, erwiderte ſie ganz
einfach: „Ich habe von Jugend auf gehört: überraſcht dich
das Erdbeben im Hauſe, ſo ſtelle dich unter die Verbindungs-
thür zwiſchen zwei Zimmern; biſt du im Freien und fühlſt
du, daß der Boden unter dir ſich aufthut, ſo ſtrecke beide
Arme aus und ſuche dich an den Rändern der Spalte zu
halten.“ So iſt der Menſch in dieſen wilden oder häufigen
Zerrüttungen unterworfenen Ländern gerüſtet, den Tieren des
Waldes entgegenzutreten, ſich aus dem Rachen der Krokodile
zu befreien, ſich aus dem Kampfe der Elemente zu retten.

So oft in ſehr heißen und naſſen Jahren bösartige
Fieber in Angoſtura herrſchen, ſtreitet man darüber, ob die
Regierung wohl gethan, die Stadt von Vieja Guyana
an den Engpaß zwiſchen der Inſel Maruanta und dem
Einfluß des Rio Orocopiche zu verlegen. Man behauptet,
der alten Stadt ſeien, da ſie näher an der See gelegen, die
kühlen Seewinde mehr zu gute gekommen, und die große
Sterblichkeit, die dort geherrſcht, ſei nicht ſowohl örtlichen Ur-
ſachen als der Lebensweiſe der Einwohner zuzuſchreiben ge-
weſen. An den fruchtbaren, feuchten Ufern des Orinoko unter-
halb des Einfluſſes des Carony wachſen in überſchwenglicher
Menge Waſſermelonen (Patillas), Bananen und Papayas. 1

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[156/0164] Natur ſo gewaltig und furchtbar erſcheint, iſt der Menſch be- ſtändig gegen die Gefahr gerüſtet. Wir haben oben erwähnt, was das junge indianiſche Mädchen ſagte, das ſich ſelbſt aus dem Rachen des Krokodils losgemacht: „Ich wußte, daß es mich fahren ließ, wenn ich ihm die Finger in die Augen drückte.“ Dieſes Mädchen gehörte der dürftigen Volksklaſſe an, wo die Gewöhnung an phyſiſche Not die moraliſche Kraft ſteigert; es iſt aber wahrhaft überraſchend, wenn man in von ſchrecklichen Erdbeben zerrütteten Ländern, auf der Hochebene von Quito, Frauen aus den höchſten Geſellſchaftsklaſſen im Augenblick der Gefahr dieſelbe Kaltblütigkeit, dieſelbe über- legte Entſchloſſenheit entwickeln ſieht. Ich gebe zum Beleg dafür nur ein Beiſpiel. Als am 4. Februar 1797 36000 Indianer in wenigen Minuten ihren Tod fanden, rettete eine junge Mutter ſich und ihre Kinder dadurch, daß ſie im Augenblick, wo der geborſtene Boden ſie verſchlingen wollte, ihnen zurief, die Arme auszuſtrecken. Als man gegen das mutige Weib Verwunderung über eine ſo außerordentliche Geiſtesgegenwart äußerte, erwiderte ſie ganz einfach: „Ich habe von Jugend auf gehört: überraſcht dich das Erdbeben im Hauſe, ſo ſtelle dich unter die Verbindungs- thür zwiſchen zwei Zimmern; biſt du im Freien und fühlſt du, daß der Boden unter dir ſich aufthut, ſo ſtrecke beide Arme aus und ſuche dich an den Rändern der Spalte zu halten.“ So iſt der Menſch in dieſen wilden oder häufigen Zerrüttungen unterworfenen Ländern gerüſtet, den Tieren des Waldes entgegenzutreten, ſich aus dem Rachen der Krokodile zu befreien, ſich aus dem Kampfe der Elemente zu retten. So oft in ſehr heißen und naſſen Jahren bösartige Fieber in Angoſtura herrſchen, ſtreitet man darüber, ob die Regierung wohl gethan, die Stadt von Vieja Guyana an den Engpaß zwiſchen der Inſel Maruanta und dem Einfluß des Rio Orocopiche zu verlegen. Man behauptet, der alten Stadt ſeien, da ſie näher an der See gelegen, die kühlen Seewinde mehr zu gute gekommen, und die große Sterblichkeit, die dort geherrſcht, ſei nicht ſowohl örtlichen Ur- ſachen als der Lebensweiſe der Einwohner zuzuſchreiben ge- weſen. An den fruchtbaren, feuchten Ufern des Orinoko unter- halb des Einfluſſes des Carony wachſen in überſchwenglicher Menge Waſſermelonen (Patillas), Bananen und Papayas. 1 1 Die Frucht der Carica Papaya.

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/164>, abgerufen am 24.11.2024.