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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

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nicht selten wieder zu Tage, nachdem er lange geschlummert.
Wenige Monate vor unserer Ankunft in Esmeralda war ein
im Walde 1 hinter dem Duida geborener Indianer allein unter-
wegs mit einem anderen, der von den Spaniern am Ventuario
gefangen worden war und ruhig im Dorfe, oder, wie man
hier sagt, "unter der Glocke", "debaxo de la campanna",
lebte. Letzterer konnte nur langsam gehen, weil er an einem
Fieber litt, wie sie die Eingeborenen häufig befallen, wenn
sie in die Missionen kommen und rasch die Lebensweise ändern.
Sein Reisegefährte ärgerlich über den Aufenthalt, schlug ihn
tot und versteckte den Leichnam in dichtem Gebüsch in der
Nähe von Esmeralda. Dieses Verbrechen, wie so manches
dergleichen, was unter den Indianern vorfällt, wäre unent-
deckt geblieben, hätte nicht der Mörder Anstalt gemacht, tags
darauf eine Mahlzeit zu halten. Er wollte seine Kinder, die
in der Mission geboren und Christen geworden waren, be-
reden, mit ihm einige Stücke des Leichnams zu holen. Mit
Mühe brachten ihn die Kinder davon ab, und durch den Zank,
zu dem die Sache in der Familie führte, erfuhr der Sol-
dat, der in Esmeralda lag, was die Indianer ihm so gerne
verborgen hätten.

Anthropophagie und Menschenopfer, die so oft damit
verknüpft sind, kommen bekanntlich überall auf dem Erdballe
und bei Völkern der verschiedensten Rassen vor; 2 aber beson-
ders auffallend erscheint in der Geschichte der Zug, daß die
Menschenopfer sich auch bei bedeutendem Kulturfortschritt er-

1 En el monte. Man unterscheidet zwischen Indianern, die
in den Missionen, und solchen, die in den Wäldern geboren sind.
Das Wort monte wird in den Kolonieen häufiger für Wald
(bosque) gebraucht als für Berg, und dieser Umstand hat auf
unseren Karten große Irrtümer veranlaßt, indem man Bergketten
(sierras) einzeichnete, wo nichts als dicker Wald, monte espeso, ist.
2 Einige Fälle, wo von Negern auf Cuba Kinder geraubt
wurden, gaben in den spanischen Kolonieen Anlaß zum Glauben,
als gäbe es unter den afrikanischen Völkerschaften Anthropophagen.
Einige Reisende behaupten solches, es wird aber durch Barrows
Beobachtungen im inneren Afrika widerlegt. Abergläubische Ge-
bräuche mögen Anlaß zu Beschuldigungen gegeben haben, die wohl
so ungerecht sind als die, unter denen in den Zeiten der Intoleranz
und der Verfolgungssucht die Juden zu leiden hatten. [Die Existenz
von Kannibalenvölkern in Afrika ist durch die neueren Forschungen
jeglichem Zweifel entrückt. -- D. Herausg.]

nicht ſelten wieder zu Tage, nachdem er lange geſchlummert.
Wenige Monate vor unſerer Ankunft in Esmeralda war ein
im Walde 1 hinter dem Duida geborener Indianer allein unter-
wegs mit einem anderen, der von den Spaniern am Ventuario
gefangen worden war und ruhig im Dorfe, oder, wie man
hier ſagt, „unter der Glocke“, „debaxo de la campaña“,
lebte. Letzterer konnte nur langſam gehen, weil er an einem
Fieber litt, wie ſie die Eingeborenen häufig befallen, wenn
ſie in die Miſſionen kommen und raſch die Lebensweiſe ändern.
Sein Reiſegefährte ärgerlich über den Aufenthalt, ſchlug ihn
tot und verſteckte den Leichnam in dichtem Gebüſch in der
Nähe von Esmeralda. Dieſes Verbrechen, wie ſo manches
dergleichen, was unter den Indianern vorfällt, wäre unent-
deckt geblieben, hätte nicht der Mörder Anſtalt gemacht, tags
darauf eine Mahlzeit zu halten. Er wollte ſeine Kinder, die
in der Miſſion geboren und Chriſten geworden waren, be-
reden, mit ihm einige Stücke des Leichnams zu holen. Mit
Mühe brachten ihn die Kinder davon ab, und durch den Zank,
zu dem die Sache in der Familie führte, erfuhr der Sol-
dat, der in Esmeralda lag, was die Indianer ihm ſo gerne
verborgen hätten.

Anthropophagie und Menſchenopfer, die ſo oft damit
verknüpft ſind, kommen bekanntlich überall auf dem Erdballe
und bei Völkern der verſchiedenſten Raſſen vor; 2 aber beſon-
ders auffallend erſcheint in der Geſchichte der Zug, daß die
Menſchenopfer ſich auch bei bedeutendem Kulturfortſchritt er-

1 En el monte. Man unterſcheidet zwiſchen Indianern, die
in den Miſſionen, und ſolchen, die in den Wäldern geboren ſind.
Das Wort monte wird in den Kolonieen häufiger für Wald
(bosque) gebraucht als für Berg, und dieſer Umſtand hat auf
unſeren Karten große Irrtümer veranlaßt, indem man Bergketten
(sierras) einzeichnete, wo nichts als dicker Wald, monte espeso, iſt.
2 Einige Fälle, wo von Negern auf Cuba Kinder geraubt
wurden, gaben in den ſpaniſchen Kolonieen Anlaß zum Glauben,
als gäbe es unter den afrikaniſchen Völkerſchaften Anthropophagen.
Einige Reiſende behaupten ſolches, es wird aber durch Barrows
Beobachtungen im inneren Afrika widerlegt. Abergläubiſche Ge-
bräuche mögen Anlaß zu Beſchuldigungen gegeben haben, die wohl
ſo ungerecht ſind als die, unter denen in den Zeiten der Intoleranz
und der Verfolgungsſucht die Juden zu leiden hatten. [Die Exiſtenz
von Kannibalenvölkern in Afrika iſt durch die neueren Forſchungen
jeglichem Zweifel entrückt. — D. Herausg.]
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[15/0023] nicht ſelten wieder zu Tage, nachdem er lange geſchlummert. Wenige Monate vor unſerer Ankunft in Esmeralda war ein im Walde 1 hinter dem Duida geborener Indianer allein unter- wegs mit einem anderen, der von den Spaniern am Ventuario gefangen worden war und ruhig im Dorfe, oder, wie man hier ſagt, „unter der Glocke“, „debaxo de la campaña“, lebte. Letzterer konnte nur langſam gehen, weil er an einem Fieber litt, wie ſie die Eingeborenen häufig befallen, wenn ſie in die Miſſionen kommen und raſch die Lebensweiſe ändern. Sein Reiſegefährte ärgerlich über den Aufenthalt, ſchlug ihn tot und verſteckte den Leichnam in dichtem Gebüſch in der Nähe von Esmeralda. Dieſes Verbrechen, wie ſo manches dergleichen, was unter den Indianern vorfällt, wäre unent- deckt geblieben, hätte nicht der Mörder Anſtalt gemacht, tags darauf eine Mahlzeit zu halten. Er wollte ſeine Kinder, die in der Miſſion geboren und Chriſten geworden waren, be- reden, mit ihm einige Stücke des Leichnams zu holen. Mit Mühe brachten ihn die Kinder davon ab, und durch den Zank, zu dem die Sache in der Familie führte, erfuhr der Sol- dat, der in Esmeralda lag, was die Indianer ihm ſo gerne verborgen hätten. Anthropophagie und Menſchenopfer, die ſo oft damit verknüpft ſind, kommen bekanntlich überall auf dem Erdballe und bei Völkern der verſchiedenſten Raſſen vor; 2 aber beſon- ders auffallend erſcheint in der Geſchichte der Zug, daß die Menſchenopfer ſich auch bei bedeutendem Kulturfortſchritt er- 1 En el monte. Man unterſcheidet zwiſchen Indianern, die in den Miſſionen, und ſolchen, die in den Wäldern geboren ſind. Das Wort monte wird in den Kolonieen häufiger für Wald (bosque) gebraucht als für Berg, und dieſer Umſtand hat auf unſeren Karten große Irrtümer veranlaßt, indem man Bergketten (sierras) einzeichnete, wo nichts als dicker Wald, monte espeso, iſt. 2 Einige Fälle, wo von Negern auf Cuba Kinder geraubt wurden, gaben in den ſpaniſchen Kolonieen Anlaß zum Glauben, als gäbe es unter den afrikaniſchen Völkerſchaften Anthropophagen. Einige Reiſende behaupten ſolches, es wird aber durch Barrows Beobachtungen im inneren Afrika widerlegt. Abergläubiſche Ge- bräuche mögen Anlaß zu Beſchuldigungen gegeben haben, die wohl ſo ungerecht ſind als die, unter denen in den Zeiten der Intoleranz und der Verfolgungsſucht die Juden zu leiden hatten. [Die Exiſtenz von Kannibalenvölkern in Afrika iſt durch die neueren Forſchungen jeglichem Zweifel entrückt. — D. Herausg.]

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/23>, abgerufen am 21.11.2024.