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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

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heraus. Ich lege auf diese Angaben um so mehr Gewicht,
als vor meiner Reise in vielen geographischen Werken von
den Kariben nur wie von einem ausgestorbenen Volkstamm
die Rede war. Da man vom Inneren der spanischen Kolo-
nien auf dem Festland nichts wußte, setzte man voraus, die
kleinen Inseln Dominica, Guadeloupe und St. Vincent seien
der Hauptwohnsitz dieses Volkes gewesen, und von demselben
bestehe (auf allen östlichen Antillen) nichts mehr als versteinerte
oder vielmehr in einem Madreporenkalk eingeschlossene Skelette. 1
Nach dieser Voraussetzung wären die Kariben in Amerika aus-
gestorben, wie die Guanchen auf dem Archipel der Kanarien.

Stämme, welche, demselben Volke angehörig, sich gemein-
samen Ursprung zuschreiben, werden auch mit denselben Na-
men bezeichnet. Meist wird der Name einer einzelnen Horde
von den benachbarten Völkern allen anderen beigelegt; zu-
weilen werden auch Ortsnamen zu Volksnamen, oder letztere
entspringen aus Spottnamen oder aus der zufälligen Ver-
drehung eines Wortes infolge schlechter Aussprache. Das
Wort "Caribes", das ich zuerst in einem Briefe des Peter
Martyr d'Anghiera finde, kommt von Calina und Caripuna,
wobei aus l und p r und b wurden. Ja es ist sehr merk-
würdig, daß dieser Name, den Kolumbus aus dem Munde
der haytischen Völker hörte, bei den Kariben auf den Inseln
und bei denen auf dem Festland zugleich vorkam. Aus Ca-
rina oder Calina machte man Galibi (Karibi), wie in Fran-
zösisch-Guyana eine Völkerschaft heißt, die von weit kleinerem
Wuchse ist als die Einwohner am Cari, aber eine der zahl-
reichen Mundarten der karibischen Sprache spricht. Die Be-
wohner der Inseln nannten sich in der Männersprache Cali-
nago, in der Weibersprache Callipinan. Dieser Unterschied
zwischen beiden Geschlechtern in der Sprechweise ist bei den
Völkern von karibischem Stamm auffallender als bei ande-
ren amerikanischen Nationen (den Omagua, Guarani und
Chiquitos), bei welchen derselbe nur wenige Begriffe betrifft, wie
z. B. die Worte Mutter und Kind. Es begreift sich, wie

1 Diese Skelette wurden im Jahre 1805 von Cortes gefunden.
Sie sind in einer Madreporen-Breccie eingeschlossen, welche die
Neger sehr naiv maconne bon Dieu nennen, und die, neuer For-
mation wie der italienische Travertin, Topfscherben und andere Pro-
dukte der Menschenhand enthält. Dauxiou Lavaysse und Dr. König
machten in Europa zuerst diese Erscheinung bekannt, die eine Zeit-
lang die Aufmerksamkeit der Geologen in Anspruch nahm.

heraus. Ich lege auf dieſe Angaben um ſo mehr Gewicht,
als vor meiner Reiſe in vielen geographiſchen Werken von
den Kariben nur wie von einem ausgeſtorbenen Volkſtamm
die Rede war. Da man vom Inneren der ſpaniſchen Kolo-
nien auf dem Feſtland nichts wußte, ſetzte man voraus, die
kleinen Inſeln Dominica, Guadeloupe und St. Vincent ſeien
der Hauptwohnſitz dieſes Volkes geweſen, und von demſelben
beſtehe (auf allen öſtlichen Antillen) nichts mehr als verſteinerte
oder vielmehr in einem Madreporenkalk eingeſchloſſene Skelette. 1
Nach dieſer Vorausſetzung wären die Kariben in Amerika aus-
geſtorben, wie die Guanchen auf dem Archipel der Kanarien.

Stämme, welche, demſelben Volke angehörig, ſich gemein-
ſamen Urſprung zuſchreiben, werden auch mit denſelben Na-
men bezeichnet. Meiſt wird der Name einer einzelnen Horde
von den benachbarten Völkern allen anderen beigelegt; zu-
weilen werden auch Ortsnamen zu Volksnamen, oder letztere
entſpringen aus Spottnamen oder aus der zufälligen Ver-
drehung eines Wortes infolge ſchlechter Ausſprache. Das
Wort „Caribes“, das ich zuerſt in einem Briefe des Peter
Martyr d’Anghiera finde, kommt von Calina und Caripuna,
wobei aus l und p r und b wurden. Ja es iſt ſehr merk-
würdig, daß dieſer Name, den Kolumbus aus dem Munde
der haytiſchen Völker hörte, bei den Kariben auf den Inſeln
und bei denen auf dem Feſtland zugleich vorkam. Aus Ca-
rina oder Calina machte man Galibi (Karibi), wie in Fran-
zöſiſch-Guyana eine Völkerſchaft heißt, die von weit kleinerem
Wuchſe iſt als die Einwohner am Cari, aber eine der zahl-
reichen Mundarten der karibiſchen Sprache ſpricht. Die Be-
wohner der Inſeln nannten ſich in der Männerſprache Cali-
nago, in der Weiberſprache Callipinan. Dieſer Unterſchied
zwiſchen beiden Geſchlechtern in der Sprechweiſe iſt bei den
Völkern von karibiſchem Stamm auffallender als bei ande-
ren amerikaniſchen Nationen (den Omagua, Guarani und
Chiquitos), bei welchen derſelbe nur wenige Begriffe betrifft, wie
z. B. die Worte Mutter und Kind. Es begreift ſich, wie

1 Dieſe Skelette wurden im Jahre 1805 von Cortes gefunden.
Sie ſind in einer Madreporen-Breccie eingeſchloſſen, welche die
Neger ſehr naiv maçonne bon Dieu nennen, und die, neuer For-
mation wie der italieniſche Travertin, Topfſcherben und andere Pro-
dukte der Menſchenhand enthält. Dauxiou Lavayſſe und Dr. König
machten in Europa zuerſt dieſe Erſcheinung bekannt, die eine Zeit-
lang die Aufmerkſamkeit der Geologen in Anſpruch nahm.
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[236/0244] heraus. Ich lege auf dieſe Angaben um ſo mehr Gewicht, als vor meiner Reiſe in vielen geographiſchen Werken von den Kariben nur wie von einem ausgeſtorbenen Volkſtamm die Rede war. Da man vom Inneren der ſpaniſchen Kolo- nien auf dem Feſtland nichts wußte, ſetzte man voraus, die kleinen Inſeln Dominica, Guadeloupe und St. Vincent ſeien der Hauptwohnſitz dieſes Volkes geweſen, und von demſelben beſtehe (auf allen öſtlichen Antillen) nichts mehr als verſteinerte oder vielmehr in einem Madreporenkalk eingeſchloſſene Skelette. 1 Nach dieſer Vorausſetzung wären die Kariben in Amerika aus- geſtorben, wie die Guanchen auf dem Archipel der Kanarien. Stämme, welche, demſelben Volke angehörig, ſich gemein- ſamen Urſprung zuſchreiben, werden auch mit denſelben Na- men bezeichnet. Meiſt wird der Name einer einzelnen Horde von den benachbarten Völkern allen anderen beigelegt; zu- weilen werden auch Ortsnamen zu Volksnamen, oder letztere entſpringen aus Spottnamen oder aus der zufälligen Ver- drehung eines Wortes infolge ſchlechter Ausſprache. Das Wort „Caribes“, das ich zuerſt in einem Briefe des Peter Martyr d’Anghiera finde, kommt von Calina und Caripuna, wobei aus l und p r und b wurden. Ja es iſt ſehr merk- würdig, daß dieſer Name, den Kolumbus aus dem Munde der haytiſchen Völker hörte, bei den Kariben auf den Inſeln und bei denen auf dem Feſtland zugleich vorkam. Aus Ca- rina oder Calina machte man Galibi (Karibi), wie in Fran- zöſiſch-Guyana eine Völkerſchaft heißt, die von weit kleinerem Wuchſe iſt als die Einwohner am Cari, aber eine der zahl- reichen Mundarten der karibiſchen Sprache ſpricht. Die Be- wohner der Inſeln nannten ſich in der Männerſprache Cali- nago, in der Weiberſprache Callipinan. Dieſer Unterſchied zwiſchen beiden Geſchlechtern in der Sprechweiſe iſt bei den Völkern von karibiſchem Stamm auffallender als bei ande- ren amerikaniſchen Nationen (den Omagua, Guarani und Chiquitos), bei welchen derſelbe nur wenige Begriffe betrifft, wie z. B. die Worte Mutter und Kind. Es begreift ſich, wie 1 Dieſe Skelette wurden im Jahre 1805 von Cortes gefunden. Sie ſind in einer Madreporen-Breccie eingeſchloſſen, welche die Neger ſehr naiv maçonne bon Dieu nennen, und die, neuer For- mation wie der italieniſche Travertin, Topfſcherben und andere Pro- dukte der Menſchenhand enthält. Dauxiou Lavayſſe und Dr. König machten in Europa zuerſt dieſe Erſcheinung bekannt, die eine Zeit- lang die Aufmerkſamkeit der Geologen in Anſpruch nahm.

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 236. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/244>, abgerufen am 23.11.2024.