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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

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welche in dem noch so wenig bekannten Lande zwischen den
Quellen des Orinoko und den Flüssen Essequibo, Carony
und Parime (Rio Branco oder Rio de aguas blancas) hausen,
teilen sich in Stämme; ähnlich den Völkern am Missouri,
in Chile und im alten Germanien bilden sie eine Art poli-
tischer Bundesgenossenschaft. Eine solche Verfassung sagt am
besten der Freiheitsliebe dieser kriegerischen Horden zu, die
gesellschaftliche Bande nur dann vorteilhaft finden, wenn es
gemeinsame Verteidigung gilt. In ihrem Stolze sondern sich
die Kariben von allen anderen Stämmen ab, selbst von sol-
chen, die der Sprache nach ihnen verwandt sind. Auf dieser
Absonderung bestehen sie auch in den Missionen. Diese sind
selten gediehen, wenn man den Versuch gemacht hat, Kariben
gemischten Gemeinden einzuverleiben, das heißt solchen, wo
jede Hütte von einer Familie bewohnt ist, die wieder einem
anderen Volke angehört und eine andere Mundart hat. Bei
den unabhängigen Kariben vererbt sich die Häuptlingswürde
vom Vater auf den Sohn, nicht durch die Schwesterkinder.
Letztere Erbfolge beruht auf einem grundsätzlichen Mißtrauen,
das eben nicht für große Sittenreinheit spricht; dieselbe herrscht
in Indien, bei den Aschanti in Afrika und bei mehreren
wilden Horden in Nordamerika. 1 Bei den Kariben müssen

pag. 72). Auch die Peruaner hatten neben den Quippos hiero-
glyphische Malereien, ähnlich den mexikanischen, nur roher. Be-
malter Blätter bedienten sie sich seit der Eroberung zum Beichten
in der Kirche. Vielleicht hatte der Karibe, der nach Anghieras Er-
zählung tief aus dem Lande nach Darien kam, Gelegenheit gehabt,
in Quito oder Cundinamarca ein peruanisches Buch zu sehen. Ich
brauche, wie die ersten spanischen Reisenden, das Wort Buch, weil
dasselbe keineswegs den Gebrauch einer Buchstabenschrift voraussetzt.
1 Bei den Huronen (Wyandot) und Natchez vererbt sich die
oberste Würde in der weiblichen Linie; nicht der Sohn ist der Nach-
folger, sondern der Sohn der Schwester oder der nächste Verwandte
von weiblicher Seite. Bei dieser Erbfolge ist man sicher, daß die
oberste Gewalt beim Blute des letzten Häuptlings bleibt; der Brauch
ist eine Gewähr für die Legitimität. Ich habe bei den königlichen
Dynastieen auf den Antillen alte Spuren dieser in Afrika und
Ostindien sehr verbreiteten Erbfolge gefunden. "In testamentis
autem quam fatue sese habeant, intelligamus: ex sorore prima
primogenitum, si insit, reliquunt regnorum haeredem; sin
minus, ex altera, vel tertia, si ex secunda proles desit: quia
a suo sanguine creatam sobolem eam certum est. Filios autem

welche in dem noch ſo wenig bekannten Lande zwiſchen den
Quellen des Orinoko und den Flüſſen Eſſequibo, Carony
und Parime (Rio Branco oder Rio de aguas blancas) hauſen,
teilen ſich in Stämme; ähnlich den Völkern am Miſſouri,
in Chile und im alten Germanien bilden ſie eine Art poli-
tiſcher Bundesgenoſſenſchaft. Eine ſolche Verfaſſung ſagt am
beſten der Freiheitsliebe dieſer kriegeriſchen Horden zu, die
geſellſchaftliche Bande nur dann vorteilhaft finden, wenn es
gemeinſame Verteidigung gilt. In ihrem Stolze ſondern ſich
die Kariben von allen anderen Stämmen ab, ſelbſt von ſol-
chen, die der Sprache nach ihnen verwandt ſind. Auf dieſer
Abſonderung beſtehen ſie auch in den Miſſionen. Dieſe ſind
ſelten gediehen, wenn man den Verſuch gemacht hat, Kariben
gemiſchten Gemeinden einzuverleiben, das heißt ſolchen, wo
jede Hütte von einer Familie bewohnt iſt, die wieder einem
anderen Volke angehört und eine andere Mundart hat. Bei
den unabhängigen Kariben vererbt ſich die Häuptlingswürde
vom Vater auf den Sohn, nicht durch die Schweſterkinder.
Letztere Erbfolge beruht auf einem grundſätzlichen Mißtrauen,
das eben nicht für große Sittenreinheit ſpricht; dieſelbe herrſcht
in Indien, bei den Aſchanti in Afrika und bei mehreren
wilden Horden in Nordamerika. 1 Bei den Kariben müſſen

pag. 72). Auch die Peruaner hatten neben den Quippos hiero-
glyphiſche Malereien, ähnlich den mexikaniſchen, nur roher. Be-
malter Blätter bedienten ſie ſich ſeit der Eroberung zum Beichten
in der Kirche. Vielleicht hatte der Karibe, der nach Anghieras Er-
zählung tief aus dem Lande nach Darien kam, Gelegenheit gehabt,
in Quito oder Cundinamarca ein peruaniſches Buch zu ſehen. Ich
brauche, wie die erſten ſpaniſchen Reiſenden, das Wort Buch, weil
dasſelbe keineswegs den Gebrauch einer Buchſtabenſchrift vorausſetzt.
1 Bei den Huronen (Wyandot) und Natchez vererbt ſich die
oberſte Würde in der weiblichen Linie; nicht der Sohn iſt der Nach-
folger, ſondern der Sohn der Schweſter oder der nächſte Verwandte
von weiblicher Seite. Bei dieſer Erbfolge iſt man ſicher, daß die
oberſte Gewalt beim Blute des letzten Häuptlings bleibt; der Brauch
iſt eine Gewähr für die Legitimität. Ich habe bei den königlichen
Dynaſtieen auf den Antillen alte Spuren dieſer in Afrika und
Oſtindien ſehr verbreiteten Erbfolge gefunden. „In testamentis
autem quam fatue sese habeant, intelligamus: ex sorore prima
primogenitum, si insit, reliquunt regnorum haeredem; sin
minus, ex altera, vel tertia, si ex secunda proles desit: quia
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[247/0255] welche in dem noch ſo wenig bekannten Lande zwiſchen den Quellen des Orinoko und den Flüſſen Eſſequibo, Carony und Parime (Rio Branco oder Rio de aguas blancas) hauſen, teilen ſich in Stämme; ähnlich den Völkern am Miſſouri, in Chile und im alten Germanien bilden ſie eine Art poli- tiſcher Bundesgenoſſenſchaft. Eine ſolche Verfaſſung ſagt am beſten der Freiheitsliebe dieſer kriegeriſchen Horden zu, die geſellſchaftliche Bande nur dann vorteilhaft finden, wenn es gemeinſame Verteidigung gilt. In ihrem Stolze ſondern ſich die Kariben von allen anderen Stämmen ab, ſelbſt von ſol- chen, die der Sprache nach ihnen verwandt ſind. Auf dieſer Abſonderung beſtehen ſie auch in den Miſſionen. Dieſe ſind ſelten gediehen, wenn man den Verſuch gemacht hat, Kariben gemiſchten Gemeinden einzuverleiben, das heißt ſolchen, wo jede Hütte von einer Familie bewohnt iſt, die wieder einem anderen Volke angehört und eine andere Mundart hat. Bei den unabhängigen Kariben vererbt ſich die Häuptlingswürde vom Vater auf den Sohn, nicht durch die Schweſterkinder. Letztere Erbfolge beruht auf einem grundſätzlichen Mißtrauen, das eben nicht für große Sittenreinheit ſpricht; dieſelbe herrſcht in Indien, bei den Aſchanti in Afrika und bei mehreren wilden Horden in Nordamerika. 1 Bei den Kariben müſſen 1 1 Bei den Huronen (Wyandot) und Natchez vererbt ſich die oberſte Würde in der weiblichen Linie; nicht der Sohn iſt der Nach- folger, ſondern der Sohn der Schweſter oder der nächſte Verwandte von weiblicher Seite. Bei dieſer Erbfolge iſt man ſicher, daß die oberſte Gewalt beim Blute des letzten Häuptlings bleibt; der Brauch iſt eine Gewähr für die Legitimität. Ich habe bei den königlichen Dynaſtieen auf den Antillen alte Spuren dieſer in Afrika und Oſtindien ſehr verbreiteten Erbfolge gefunden. „In testamentis autem quam fatue sese habeant, intelligamus: ex sorore prima primogenitum, si insit, reliquunt regnorum haeredem; sin minus, ex altera, vel tertia, si ex secunda proles desit: quia a suo sanguine creatam sobolem eam certum est. Filios autem 1 pag. 72). Auch die Peruaner hatten neben den Quippos hiero- glyphiſche Malereien, ähnlich den mexikaniſchen, nur roher. Be- malter Blätter bedienten ſie ſich ſeit der Eroberung zum Beichten in der Kirche. Vielleicht hatte der Karibe, der nach Anghieras Er- zählung tief aus dem Lande nach Darien kam, Gelegenheit gehabt, in Quito oder Cundinamarca ein peruaniſches Buch zu ſehen. Ich brauche, wie die erſten ſpaniſchen Reiſenden, das Wort Buch, weil dasſelbe keineswegs den Gebrauch einer Buchſtabenſchrift vorausſetzt.

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 247. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/255>, abgerufen am 22.11.2024.