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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

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unseres Aufenthaltes in Amerika. Ich rate den Reisen-
den, den Weg über den Cassiquiare dem über den Atabapo
nicht vorzuziehen, sie müßten denn sehr großes Verlangen
haben, die große Gabelteilung des Orinoko mit eigenen Augen
zu sehen.

Oberhalb des Canno Duractumuni läuft der Cassiquiare
geradeaus von Nordost nach Südwest. Hier hat man am
rechten Ufer mit dem Bau des Dorfes Vasiva begonnen.
Die Missionen Pacimona, Capivari, Buenaguardia, sowie
die angebliche Schanze am See bei Vasiva auf unseren Karten
sind lauter Fiktionen. Es fiel uns auf, wie stark durch die
raschen Anschwellungen des Cassiquiare die beiderseitigen Ufer-
abhänge unterhöhlt waren. Entwurzelte Bäume bilden natür-
liche Flöße; sie stecken halb im Schlamme und können den
Pirogen sehr gefährlich werden. Hätte man das Unglück,
in diesen unbewohnten Strichen zu scheitern, so verschwände
man ohne Zweifel, ohne daß eine Spur des Schiffbruches
verriete, wo und wie man untergegangen. Man erführe
nur an der Küste, und das sehr spät, ein Kanoe, das von
Vasiva abgegangen, sei 450 km weiterhin, in den Missionen
Santa Barbara und San Fernando de Atabapo nicht gesehen
worden.

Die Nacht des 20. Mai, die letzte unserer Fahrt auf
dem Cassiquiare, brachten wir an der Stelle zu, wo der Ori-
noko sich gabelt. Wir hatten einige Aussicht, eine astrono-
mische Beobachtung machen zu können; denn ungewöhnlich
große Sternschnuppen schimmerten durch die Dunsthülle, die
den Himmel umzog. Wir schlossen daraus, die Dunstschicht
müsse sehr dünn sein, da man solche Meteore fast niemals
unter dem Gewölk sieht. Die uns zu Gesicht kamen, liefen
nach Nord und folgten aufeinander fast in gleichen Pausen.
Die Indianer, welche die Zerrbilder ihrer Phantasie nicht
leicht durch den Ausdruck veredeln, nennen die Sternschnuppen
den Urin, und den Tau den Speichel der Sterne.
Aber das Gewölk wurde wieder dicker und wir sahen weder
die Meteore mehr noch die wahren Sterne, deren wir seit
mehreren Tagen mit so großer Ungeduld harrten.

Man hatte uns gesagt, in Esmeralda werden wir die
Insekten "noch grausamer und gieriger" finden als auf dem
Arm des Orinoko, den wir jetzt hinauffuhren; trotz dieser
Aussicht erheiterte uns die Hoffnung, endlich einmal wieder
an einem bewohnten Orte schlafen und uns beim Botanisieren

unſeres Aufenthaltes in Amerika. Ich rate den Reiſen-
den, den Weg über den Caſſiquiare dem über den Atabapo
nicht vorzuziehen, ſie müßten denn ſehr großes Verlangen
haben, die große Gabelteilung des Orinoko mit eigenen Augen
zu ſehen.

Oberhalb des Caño Duractumuni läuft der Caſſiquiare
geradeaus von Nordoſt nach Südweſt. Hier hat man am
rechten Ufer mit dem Bau des Dorfes Vaſiva begonnen.
Die Miſſionen Pacimona, Capivari, Buenaguardia, ſowie
die angebliche Schanze am See bei Vaſiva auf unſeren Karten
ſind lauter Fiktionen. Es fiel uns auf, wie ſtark durch die
raſchen Anſchwellungen des Caſſiquiare die beiderſeitigen Ufer-
abhänge unterhöhlt waren. Entwurzelte Bäume bilden natür-
liche Flöße; ſie ſtecken halb im Schlamme und können den
Pirogen ſehr gefährlich werden. Hätte man das Unglück,
in dieſen unbewohnten Strichen zu ſcheitern, ſo verſchwände
man ohne Zweifel, ohne daß eine Spur des Schiffbruches
verriete, wo und wie man untergegangen. Man erführe
nur an der Küſte, und das ſehr ſpät, ein Kanoe, das von
Vaſiva abgegangen, ſei 450 km weiterhin, in den Miſſionen
Santa Barbara und San Fernando de Atabapo nicht geſehen
worden.

Die Nacht des 20. Mai, die letzte unſerer Fahrt auf
dem Caſſiquiare, brachten wir an der Stelle zu, wo der Ori-
noko ſich gabelt. Wir hatten einige Ausſicht, eine aſtrono-
miſche Beobachtung machen zu können; denn ungewöhnlich
große Sternſchnuppen ſchimmerten durch die Dunſthülle, die
den Himmel umzog. Wir ſchloſſen daraus, die Dunſtſchicht
müſſe ſehr dünn ſein, da man ſolche Meteore faſt niemals
unter dem Gewölk ſieht. Die uns zu Geſicht kamen, liefen
nach Nord und folgten aufeinander faſt in gleichen Pauſen.
Die Indianer, welche die Zerrbilder ihrer Phantaſie nicht
leicht durch den Ausdruck veredeln, nennen die Sternſchnuppen
den Urin, und den Tau den Speichel der Sterne.
Aber das Gewölk wurde wieder dicker und wir ſahen weder
die Meteore mehr noch die wahren Sterne, deren wir ſeit
mehreren Tagen mit ſo großer Ungeduld harrten.

Man hatte uns geſagt, in Esmeralda werden wir die
Inſekten „noch grauſamer und gieriger“ finden als auf dem
Arm des Orinoko, den wir jetzt hinauffuhren; trotz dieſer
Ausſicht erheiterte uns die Hoffnung, endlich einmal wieder
an einem bewohnten Orte ſchlafen und uns beim Botaniſieren

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[27/0035] unſeres Aufenthaltes in Amerika. Ich rate den Reiſen- den, den Weg über den Caſſiquiare dem über den Atabapo nicht vorzuziehen, ſie müßten denn ſehr großes Verlangen haben, die große Gabelteilung des Orinoko mit eigenen Augen zu ſehen. Oberhalb des Caño Duractumuni läuft der Caſſiquiare geradeaus von Nordoſt nach Südweſt. Hier hat man am rechten Ufer mit dem Bau des Dorfes Vaſiva begonnen. Die Miſſionen Pacimona, Capivari, Buenaguardia, ſowie die angebliche Schanze am See bei Vaſiva auf unſeren Karten ſind lauter Fiktionen. Es fiel uns auf, wie ſtark durch die raſchen Anſchwellungen des Caſſiquiare die beiderſeitigen Ufer- abhänge unterhöhlt waren. Entwurzelte Bäume bilden natür- liche Flöße; ſie ſtecken halb im Schlamme und können den Pirogen ſehr gefährlich werden. Hätte man das Unglück, in dieſen unbewohnten Strichen zu ſcheitern, ſo verſchwände man ohne Zweifel, ohne daß eine Spur des Schiffbruches verriete, wo und wie man untergegangen. Man erführe nur an der Küſte, und das ſehr ſpät, ein Kanoe, das von Vaſiva abgegangen, ſei 450 km weiterhin, in den Miſſionen Santa Barbara und San Fernando de Atabapo nicht geſehen worden. Die Nacht des 20. Mai, die letzte unſerer Fahrt auf dem Caſſiquiare, brachten wir an der Stelle zu, wo der Ori- noko ſich gabelt. Wir hatten einige Ausſicht, eine aſtrono- miſche Beobachtung machen zu können; denn ungewöhnlich große Sternſchnuppen ſchimmerten durch die Dunſthülle, die den Himmel umzog. Wir ſchloſſen daraus, die Dunſtſchicht müſſe ſehr dünn ſein, da man ſolche Meteore faſt niemals unter dem Gewölk ſieht. Die uns zu Geſicht kamen, liefen nach Nord und folgten aufeinander faſt in gleichen Pauſen. Die Indianer, welche die Zerrbilder ihrer Phantaſie nicht leicht durch den Ausdruck veredeln, nennen die Sternſchnuppen den Urin, und den Tau den Speichel der Sterne. Aber das Gewölk wurde wieder dicker und wir ſahen weder die Meteore mehr noch die wahren Sterne, deren wir ſeit mehreren Tagen mit ſo großer Ungeduld harrten. Man hatte uns geſagt, in Esmeralda werden wir die Inſekten „noch grauſamer und gieriger“ finden als auf dem Arm des Orinoko, den wir jetzt hinauffuhren; trotz dieſer Ausſicht erheiterte uns die Hoffnung, endlich einmal wieder an einem bewohnten Orte ſchlafen und uns beim Botaniſieren

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/35>, abgerufen am 24.11.2024.