nach den Vorstellungen der Gläubigsten, so ungewiss sind, dass die Ideen von nachheriger Reue, künftiger Besserung, gehoffter Verzeihung, welche durch gewisse Religionsbegriffe so sehr begünstigt werden -- ihnen einen grossen Theil ihrer Wirksamkeit wiederum nehmen; so ist es unbegreiflich, wie diese Ideen mehr wirken sollten, als die Vorstellung bürger- licher Strafen, die nah, bei guten Polizeianstalten gewiss, und weder durch Reue, noch nachfolgende Besserung abwendbar sind, wenn man nur von Kindheit an die Bürger ebenso mit diesen, als mit jenen Folgen sittlicher und unsittlicher Hand- lungen bekannt machte. Unläugbar wirken freilich auch weni- ger aufgeklärte Religionsbegriffe bei einem grossen Theile des Volks auf eine edlere Art. Der Gedanke, Gegenstand der Fürsorge eines allweisen und vollkommenen Wesens zu sein, giebt ihnen mehr Würde, die Zuversicht einer endlosen Dauer führt sie auf höhere Gesichtspunkte, bringt mehr Absicht und Plan in ihre Handlungen, das Gefühl der liebevollen Güte der Gottheit giebt ihrer Seele eine ähnliche Stimmung, kurz die Religion flösst ihnen Sinn für die Schönheit der Tugend ein. Allein wo die Religion diese Wirkungen haben soll, da muss sie schon in den Zusammenhang der Ideen und Empfindungen ganz übergegangen sein, welches nicht leicht möglich ist, wenn der freie Untersuchungsgeist gehemmt, und alles auf den Glau- ben zurückgeführt wird; da muss auch schon Sinn für bessere Gefühle vorhanden sein; da entspringt sie mehr aus einem, nur noch unentwickelten Hange zur Sittlichkeit, auf den sie hernach nur wieder zurückwirkt. Und überhaupt wird ja nie- mand den Einfluss der Religion auf die Sittlichkeit ganz abläugnen wollen; es fragt sich nur immer, ob er von einigen bestimmten Religionssätzen abhängt? und dann ob er so ent- schieden ist, dass Moralität und Religion darum in unzertrenn- licher Verbindung mit einander stehen? Beide Fragen müssen, glaube ich, verneint werden. Die Tugend stimmt so sehr mit
nach den Vorstellungen der Gläubigsten, so ungewiss sind, dass die Ideen von nachheriger Reue, künftiger Besserung, gehoffter Verzeihung, welche durch gewisse Religionsbegriffe so sehr begünstigt werden — ihnen einen grossen Theil ihrer Wirksamkeit wiederum nehmen; so ist es unbegreiflich, wie diese Ideen mehr wirken sollten, als die Vorstellung bürger- licher Strafen, die nah, bei guten Polizeianstalten gewiss, und weder durch Reue, noch nachfolgende Besserung abwendbar sind, wenn man nur von Kindheit an die Bürger ebenso mit diesen, als mit jenen Folgen sittlicher und unsittlicher Hand- lungen bekannt machte. Unläugbar wirken freilich auch weni- ger aufgeklärte Religionsbegriffe bei einem grossen Theile des Volks auf eine edlere Art. Der Gedanke, Gegenstand der Fürsorge eines allweisen und vollkommenen Wesens zu sein, giebt ihnen mehr Würde, die Zuversicht einer endlosen Dauer führt sie auf höhere Gesichtspunkte, bringt mehr Absicht und Plan in ihre Handlungen, das Gefühl der liebevollen Güte der Gottheit giebt ihrer Seele eine ähnliche Stimmung, kurz die Religion flösst ihnen Sinn für die Schönheit der Tugend ein. Allein wo die Religion diese Wirkungen haben soll, da muss sie schon in den Zusammenhang der Ideen und Empfindungen ganz übergegangen sein, welches nicht leicht möglich ist, wenn der freie Untersuchungsgeist gehemmt, und alles auf den Glau- ben zurückgeführt wird; da muss auch schon Sinn für bessere Gefühle vorhanden sein; da entspringt sie mehr aus einem, nur noch unentwickelten Hange zur Sittlichkeit, auf den sie hernach nur wieder zurückwirkt. Und überhaupt wird ja nie- mand den Einfluss der Religion auf die Sittlichkeit ganz abläugnen wollen; es fragt sich nur immer, ob er von einigen bestimmten Religionssätzen abhängt? und dann ob er so ent- schieden ist, dass Moralität und Religion darum in unzertrenn- licher Verbindung mit einander stehen? Beide Fragen müssen, glaube ich, verneint werden. Die Tugend stimmt so sehr mit
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nach den Vorstellungen der Gläubigsten, so ungewiss sind,
dass die Ideen von nachheriger Reue, künftiger Besserung,
gehoffter Verzeihung, welche durch gewisse Religionsbegriffe so
sehr begünstigt werden — ihnen einen grossen Theil ihrer
Wirksamkeit wiederum nehmen; so ist es unbegreiflich, wie
diese Ideen mehr wirken sollten, als die Vorstellung bürger-
licher Strafen, die nah, bei guten Polizeianstalten gewiss, und
weder durch Reue, noch nachfolgende Besserung abwendbar
sind, wenn man nur von Kindheit an die Bürger ebenso mit
diesen, als mit jenen Folgen sittlicher und unsittlicher Hand-
lungen bekannt machte. Unläugbar wirken freilich auch weni-
ger aufgeklärte Religionsbegriffe bei einem grossen Theile des
Volks auf eine edlere Art. Der Gedanke, Gegenstand der
Fürsorge eines allweisen und vollkommenen Wesens zu sein,
giebt ihnen mehr Würde, die Zuversicht einer endlosen Dauer
führt sie auf höhere Gesichtspunkte, bringt mehr Absicht und
Plan in ihre Handlungen, das Gefühl der liebevollen Güte der
Gottheit giebt ihrer Seele eine ähnliche Stimmung, kurz die
Religion flösst ihnen Sinn für die Schönheit der Tugend ein.
Allein wo die Religion diese Wirkungen haben soll, da muss
sie schon in den Zusammenhang der Ideen und Empfindungen
ganz übergegangen sein, welches nicht leicht möglich ist, wenn
der freie Untersuchungsgeist gehemmt, und alles auf den Glau-
ben zurückgeführt wird; da muss auch schon Sinn für bessere
Gefühle vorhanden sein; da entspringt sie mehr aus einem,
nur noch unentwickelten Hange zur Sittlichkeit, auf den sie
hernach nur wieder zurückwirkt. Und überhaupt wird ja nie-
mand den Einfluss der Religion auf die Sittlichkeit ganz
abläugnen wollen; es fragt sich nur immer, ob er von einigen
bestimmten Religionssätzen abhängt? und dann ob er so ent-
schieden ist, dass Moralität und Religion darum in unzertrenn-
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Wilhelm von Humboldt schrieb seine 'Ideen zu eine… [mehr]
Wilhelm von Humboldt schrieb seine 'Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen' zwischen März und Mai des Jahres 1792 nieder. Einzelne Abschnitte wurden im selben Jahr in Friedrich Schillers Thalia bzw. in der Berlinischen Monatsschrift gedruckt. Der gesamte Text wurde jedoch erst postum, 1851, aus dem Nachlass publiziert (Wilhelm von Humboldt † 8. April 1835). Gemäß den Richtlinien des DTA wurde diese Ausgabe digitalisiert.
Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851/113>, abgerufen am 16.02.2025.
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