Verlegenheit gestehe, in der ich mich bei dieser Untersuchung befinde, da auf der einen Seite das Interesse des Gegenstandes, und die Unmöglichkeit, nur die nöthigen Resultate aus andern Schriften -- da ich keine kenne, welche gerade aus meinem gegenwärtigen Gesichtspunkt ausginge -- zu entlehnen, mich einlud, mich weiter auszudehnen; und auf der andern Seite die Betrachtung, dass diese Ideen nicht eigentlich für sich, sondern nur als Lehnsätze, hierhergehören, mich immer in die gehörigen Schranken zurückwies. Die gleiche Entschuldigung muss ich, auch bei dem nun Folgenden, nicht zu vergessen bitten.
Ich habe bis jetzt -- obgleich eine völlige Trennung nie möglich ist -- von der sinnlichen Empfindung nur als sinnlicher Empfindung zu reden versucht. Aber Sinnlichkeit und Unsinn- lichkeit verknüpft ein geheimnissvolles Band, und wenn es unserm Auge versagt ist, dieses Band zu sehen, so ahnet es unser Gefühl. Dieser zwiefachen Natur der sichtbaren und unsichtbaren Welt, dem angebornen Sehnen nach dieser, und dem Gefühl der gleichsam süssen Unentbehrlichkeit jener, dan- ken wir alle, wahrhaft aus dem Wesen des Menschen entsprun- gene, konsequente philosophische Systeme, so wie eben daraus auch die sinnlosesten Schwärmereien entstehen. Ewiges Stre- ben, beide dergestalt zu vereinen, dass jede so wenig als mög- lich der andren raube, schien mir immer das wahre Ziel des menschlichen Weisen. Unverkennbar ist überall dies ästheti- sche Gefühl, mit dem uns die Sinnlichkeit Hülle des Geistigen, und das Geistige belebendes Princip der Sinnenwelt ist. Das ewige Studium dieser Physiognomik der Natur bildet den eigentli- chen Menschen. Denn nichts ist von so ausgebreiteter Wirkung auf den ganzen Charakter, als der Ausdruck des Unsinnlichen im Sinnlichen, des Erhabenen, des Einfachen, des Schönen in allen Werken der Natur und Produkten der Kunst, die uns umgeben. Und hier zeigt sich zugleich wieder der Unterschied der energisch wirkenden, und der übrigen sinnlichen Empfin-
Verlegenheit gestehe, in der ich mich bei dieser Untersuchung befinde, da auf der einen Seite das Interesse des Gegenstandes, und die Unmöglichkeit, nur die nöthigen Resultate aus andern Schriften — da ich keine kenne, welche gerade aus meinem gegenwärtigen Gesichtspunkt ausginge — zu entlehnen, mich einlud, mich weiter auszudehnen; und auf der andern Seite die Betrachtung, dass diese Ideen nicht eigentlich für sich, sondern nur als Lehnsätze, hierhergehören, mich immer in die gehörigen Schranken zurückwies. Die gleiche Entschuldigung muss ich, auch bei dem nun Folgenden, nicht zu vergessen bitten.
Ich habe bis jetzt — obgleich eine völlige Trennung nie möglich ist — von der sinnlichen Empfindung nur als sinnlicher Empfindung zu reden versucht. Aber Sinnlichkeit und Unsinn- lichkeit verknüpft ein geheimnissvolles Band, und wenn es unserm Auge versagt ist, dieses Band zu sehen, so ahnet es unser Gefühl. Dieser zwiefachen Natur der sichtbaren und unsichtbaren Welt, dem angebornen Sehnen nach dieser, und dem Gefühl der gleichsam süssen Unentbehrlichkeit jener, dan- ken wir alle, wahrhaft aus dem Wesen des Menschen entsprun- gene, konsequente philosophische Systeme, so wie eben daraus auch die sinnlosesten Schwärmereien entstehen. Ewiges Stre- ben, beide dergestalt zu vereinen, dass jede so wenig als mög- lich der andren raube, schien mir immer das wahre Ziel des menschlichen Weisen. Unverkennbar ist überall dies ästheti- sche Gefühl, mit dem uns die Sinnlichkeit Hülle des Geistigen, und das Geistige belebendes Princip der Sinnenwelt ist. Das ewige Studium dieser Physiognomik der Natur bildet den eigentli- chen Menschen. Denn nichts ist von so ausgebreiteter Wirkung auf den ganzen Charakter, als der Ausdruck des Unsinnlichen im Sinnlichen, des Erhabenen, des Einfachen, des Schönen in allen Werken der Natur und Produkten der Kunst, die uns umgeben. Und hier zeigt sich zugleich wieder der Unterschied der energisch wirkenden, und der übrigen sinnlichen Empfin-
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Verlegenheit gestehe, in der ich mich bei dieser Untersuchung
befinde, da auf der einen Seite das Interesse des Gegenstandes,
und die Unmöglichkeit, nur die nöthigen Resultate aus andern
Schriften — da ich keine kenne, welche gerade aus meinem
gegenwärtigen Gesichtspunkt ausginge — zu entlehnen, mich
einlud, mich weiter auszudehnen; und auf der andern Seite die
Betrachtung, dass diese Ideen nicht eigentlich für sich, sondern
nur als Lehnsätze, hierhergehören, mich immer in die gehörigen
Schranken zurückwies. Die gleiche Entschuldigung muss ich,
auch bei dem nun Folgenden, nicht zu vergessen bitten.
Ich habe bis jetzt — obgleich eine völlige Trennung nie
möglich ist — von der sinnlichen Empfindung nur als sinnlicher
Empfindung zu reden versucht. Aber Sinnlichkeit und Unsinn-
lichkeit verknüpft ein geheimnissvolles Band, und wenn es
unserm Auge versagt ist, dieses Band zu sehen, so ahnet es
unser Gefühl. Dieser zwiefachen Natur der sichtbaren und
unsichtbaren Welt, dem angebornen Sehnen nach dieser, und
dem Gefühl der gleichsam süssen Unentbehrlichkeit jener, dan-
ken wir alle, wahrhaft aus dem Wesen des Menschen entsprun-
gene, konsequente philosophische Systeme, so wie eben daraus
auch die sinnlosesten Schwärmereien entstehen. Ewiges Stre-
ben, beide dergestalt zu vereinen, dass jede so wenig als mög-
lich der andren raube, schien mir immer das wahre Ziel des
menschlichen Weisen. Unverkennbar ist überall dies ästheti-
sche Gefühl, mit dem uns die Sinnlichkeit Hülle des Geistigen,
und das Geistige belebendes Princip der Sinnenwelt ist. Das
ewige Studium dieser Physiognomik der Natur bildet den eigentli-
chen Menschen. Denn nichts ist von so ausgebreiteter Wirkung
auf den ganzen Charakter, als der Ausdruck des Unsinnlichen im
Sinnlichen, des Erhabenen, des Einfachen, des Schönen in
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Wilhelm von Humboldt schrieb seine 'Ideen zu eine… [mehr]
Wilhelm von Humboldt schrieb seine 'Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen' zwischen März und Mai des Jahres 1792 nieder. Einzelne Abschnitte wurden im selben Jahr in Friedrich Schillers Thalia bzw. in der Berlinischen Monatsschrift gedruckt. Der gesamte Text wurde jedoch erst postum, 1851, aus dem Nachlass publiziert (Wilhelm von Humboldt † 8. April 1835). Gemäß den Richtlinien des DTA wurde diese Ausgabe digitalisiert.
Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851/126>, abgerufen am 16.02.2025.
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