dass sie es seltner erreichen, als er, so ist es vielleicht nur, weil es überall schwerer ist, den unmittelbaren steilen Pfad, als den Umweg zu gehen. Wie sehr aber nun ein Wesen, das so reizbar, so in sich Eins ist, bei dem folglich nichts ohne Wirkung bleibt, und jede Wirkung nicht einen Theil son- dern das Ganze ergreift, durch äussre Missverhältnisse gestört wird, bedarf nicht ferner erinnert zu werden. Dennoch hängt von der Ausbildung des weiblichen Charakters in der Gesell- schaft so unendlich viel ab. Wenn es keine unrichtige Vor- stellung ist, dass jede Gattung der Trefflichkeit sich -- wenn ich so sagen darf -- in einer Art der Wesen darstellt; so bewahrt der weibliche Charakter den ganzen Schatz der Sittlichkeit.
Nach Freiheit strebt der Mann, das Weib nach Sitte +), und wenn, nach diesem tief und wahr empfundenen Ausspruch des Dichters, der Mann sich bemüht, die äusseren Schranken zu entfernen, welche dem Wachsthum hinderlich sind, so zieht die sorgsame Hand der Frauen die wohlthätige innere, in welcher allein die Fülle der Kraft sich zur Blüthe zu läutern vermag, und zieht sie um so feiner, als die Frauen das innre Dasein des Menschen tiefer empfinden, seine mannigfaltigen Verhältnisse feiner durchschauen, als ihnen jeder Sinn am willigsten zu Gebote steht, und sie des Vernünftelns überhebt, das so oft die Wahrheit verdunkelt.
Sollte es noch nothwendig scheinen, so würde auch die Geschichte diesem Raisonnement Bestätigung leihen, und die Sittlichkeit der Nationen mit der Achtung des weiblichen Geschlechts überall in enger Verbindung zeigen. Es erhellt demnach aus dem Vorigen, dass die Wirkungen der Ehe eben so mannigfaltig sind, als der Charakter der Individuen; und dass es also die nachtheiligsten Folgen haben muss, wenn der
+) Göthe's Torquato Tasso II. 1.
dass sie es seltner erreichen, als er, so ist es vielleicht nur, weil es überall schwerer ist, den unmittelbaren steilen Pfad, als den Umweg zu gehen. Wie sehr aber nun ein Wesen, das so reizbar, so in sich Eins ist, bei dem folglich nichts ohne Wirkung bleibt, und jede Wirkung nicht einen Theil son- dern das Ganze ergreift, durch äussre Missverhältnisse gestört wird, bedarf nicht ferner erinnert zu werden. Dennoch hängt von der Ausbildung des weiblichen Charakters in der Gesell- schaft so unendlich viel ab. Wenn es keine unrichtige Vor- stellung ist, dass jede Gattung der Trefflichkeit sich — wenn ich so sagen darf — in einer Art der Wesen darstellt; so bewahrt der weibliche Charakter den ganzen Schatz der Sittlichkeit.
Nach Freiheit strebt der Mann, das Weib nach Sitte †), und wenn, nach diesem tief und wahr empfundenen Ausspruch des Dichters, der Mann sich bemüht, die äusseren Schranken zu entfernen, welche dem Wachsthum hinderlich sind, so zieht die sorgsame Hand der Frauen die wohlthätige innere, in welcher allein die Fülle der Kraft sich zur Blüthe zu läutern vermag, und zieht sie um so feiner, als die Frauen das innre Dasein des Menschen tiefer empfinden, seine mannigfaltigen Verhältnisse feiner durchschauen, als ihnen jeder Sinn am willigsten zu Gebote steht, und sie des Vernünftelns überhebt, das so oft die Wahrheit verdunkelt.
Sollte es noch nothwendig scheinen, so würde auch die Geschichte diesem Raisonnement Bestätigung leihen, und die Sittlichkeit der Nationen mit der Achtung des weiblichen Geschlechts überall in enger Verbindung zeigen. Es erhellt demnach aus dem Vorigen, dass die Wirkungen der Ehe eben so mannigfaltig sind, als der Charakter der Individuen; und dass es also die nachtheiligsten Folgen haben muss, wenn der
†) Göthe’s Torquato Tasso II. 1.
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dass sie es seltner erreichen, als er, so ist es vielleicht nur,
weil es überall schwerer ist, den unmittelbaren steilen Pfad,
als den Umweg zu gehen. Wie sehr aber nun ein Wesen, das
so reizbar, so in sich Eins ist, bei dem folglich nichts ohne
Wirkung bleibt, und jede Wirkung nicht einen Theil son-
dern das Ganze ergreift, durch äussre Missverhältnisse gestört
wird, bedarf nicht ferner erinnert zu werden. Dennoch hängt
von der Ausbildung des weiblichen Charakters in der Gesell-
schaft so unendlich viel ab. Wenn es keine unrichtige Vor-
stellung ist, dass jede Gattung der Trefflichkeit sich — wenn
ich so sagen darf — in einer Art der Wesen darstellt; so
bewahrt der weibliche Charakter den ganzen Schatz der
Sittlichkeit.
Nach Freiheit strebt der Mann, das Weib nach Sitte †),
und wenn, nach diesem tief und wahr empfundenen Ausspruch
des Dichters, der Mann sich bemüht, die äusseren Schranken
zu entfernen, welche dem Wachsthum hinderlich sind, so zieht
die sorgsame Hand der Frauen die wohlthätige innere, in
welcher allein die Fülle der Kraft sich zur Blüthe zu läutern
vermag, und zieht sie um so feiner, als die Frauen das innre
Dasein des Menschen tiefer empfinden, seine mannigfaltigen
Verhältnisse feiner durchschauen, als ihnen jeder Sinn am
willigsten zu Gebote steht, und sie des Vernünftelns überhebt,
das so oft die Wahrheit verdunkelt.
Sollte es noch nothwendig scheinen, so würde auch die
Geschichte diesem Raisonnement Bestätigung leihen, und die
Sittlichkeit der Nationen mit der Achtung des weiblichen
Geschlechts überall in enger Verbindung zeigen. Es erhellt
demnach aus dem Vorigen, dass die Wirkungen der Ehe eben
so mannigfaltig sind, als der Charakter der Individuen; und
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†) Göthe’s Torquato Tasso II. 1.
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Wilhelm von Humboldt schrieb seine 'Ideen zu eine… [mehr]
Wilhelm von Humboldt schrieb seine 'Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen' zwischen März und Mai des Jahres 1792 nieder. Einzelne Abschnitte wurden im selben Jahr in Friedrich Schillers Thalia bzw. in der Berlinischen Monatsschrift gedruckt. Der gesamte Text wurde jedoch erst postum, 1851, aus dem Nachlass publiziert (Wilhelm von Humboldt † 8. April 1835). Gemäß den Richtlinien des DTA wurde diese Ausgabe digitalisiert.
Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851/64>, abgerufen am 16.02.2025.
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