Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851.

Bild:
<< vorherige Seite

Verbindung mehr oder minder Selbstständigkeit behält? und
eine unendliche Menge andrer Bestimmungen modifiziren anders
und anders sein Verhältniss im ehelichen Leben. Wie das-
selbe aber auch immer bestimmt sein mag; so ist die Wirkung
davon auf sein Wesen und seine Glückseligkeit unverkennbar,
und ob der Versuch die Wirklichkeit nach seiner innern Stim-
mung zu finden oder zu bilden, glücke oder misslinge? davon
hängt grösstentheils die höhere Vervollkommnung, oder die
Erschlaffung seines Wesens ab. Vorzüglich stark ist dieser
Einfluss bei den interessantesten Menschen, welche am zar-
testen und leichtesten auffassen, und am tiefsten bewahren.
Zu diesen kann man mit Recht im Ganzen mehr das weibliche,
als das männliche Geschlecht rechnen, und daher hängt der
Charakter des ersteren am meisten von der Art der Familien-
verhältnisse in einer Nation ab. Von sehr vielen äusseren
Beschäftigungen gänzlich frei; fast nur mit solchen umgeben,
welche das innere Wesen beinah ungestört sich selbst über-
lassen; stärker durch das, was sie zu sein, als was sie zu thun
vermögen; ausdrucksvoller durch die stille, als die geäusserte
Empfindung; mit aller Fähigkeit des unmittelbarsten, zeichen-
losesten Ausdrucks, bei dem zarteren Körperbau, dem beweg-
licheren Auge, der mehr ergreifenden Stimme, reicher ver-
sehen; im Verhältniss gegen andre mehr bestimmt, zu erwar-
ten und aufzunehmen, als entgegen zu kommen; schwächer
für sich, und doch nicht darum, sondern aus Bewunderung der
fremden Grösse und Stärke inniger anschliessend; in der Ver-
bindung unaufhörlich strebend, mit dem vereinten Wesen zu
empfangen, das Empfangene in sich zu bilden, und gebildet
zurück zu geben; zugleich höher von dem Muthe beseelt,
welchen Sorgfalt der Liebe, und Gefühl der Stärke einflösst,
die nicht dem Widerstande aber dem Erliegen im Dulden
trotzt -- sind die Weiber eigentlich dem Ideale der Mensch-
heit näher, als der Mann; und wenn es nicht unwahr ist,

Verbindung mehr oder minder Selbstständigkeit behält? und
eine unendliche Menge andrer Bestimmungen modifiziren anders
und anders sein Verhältniss im ehelichen Leben. Wie das-
selbe aber auch immer bestimmt sein mag; so ist die Wirkung
davon auf sein Wesen und seine Glückseligkeit unverkennbar,
und ob der Versuch die Wirklichkeit nach seiner innern Stim-
mung zu finden oder zu bilden, glücke oder misslinge? davon
hängt grösstentheils die höhere Vervollkommnung, oder die
Erschlaffung seines Wesens ab. Vorzüglich stark ist dieser
Einfluss bei den interessantesten Menschen, welche am zar-
testen und leichtesten auffassen, und am tiefsten bewahren.
Zu diesen kann man mit Recht im Ganzen mehr das weibliche,
als das männliche Geschlecht rechnen, und daher hängt der
Charakter des ersteren am meisten von der Art der Familien-
verhältnisse in einer Nation ab. Von sehr vielen äusseren
Beschäftigungen gänzlich frei; fast nur mit solchen umgeben,
welche das innere Wesen beinah ungestört sich selbst über-
lassen; stärker durch das, was sie zu sein, als was sie zu thun
vermögen; ausdrucksvoller durch die stille, als die geäusserte
Empfindung; mit aller Fähigkeit des unmittelbarsten, zeichen-
losesten Ausdrucks, bei dem zarteren Körperbau, dem beweg-
licheren Auge, der mehr ergreifenden Stimme, reicher ver-
sehen; im Verhältniss gegen andre mehr bestimmt, zu erwar-
ten und aufzunehmen, als entgegen zu kommen; schwächer
für sich, und doch nicht darum, sondern aus Bewunderung der
fremden Grösse und Stärke inniger anschliessend; in der Ver-
bindung unaufhörlich strebend, mit dem vereinten Wesen zu
empfangen, das Empfangene in sich zu bilden, und gebildet
zurück zu geben; zugleich höher von dem Muthe beseelt,
welchen Sorgfalt der Liebe, und Gefühl der Stärke einflösst,
die nicht dem Widerstande aber dem Erliegen im Dulden
trotzt — sind die Weiber eigentlich dem Ideale der Mensch-
heit näher, als der Mann; und wenn es nicht unwahr ist,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0063" n="27"/>
Verbindung mehr oder minder Selbstständigkeit behält? und<lb/>
eine unendliche Menge andrer Bestimmungen modifiziren anders<lb/>
und anders sein Verhältniss im ehelichen Leben. Wie das-<lb/>
selbe aber auch immer bestimmt sein mag; so ist die Wirkung<lb/>
davon auf sein Wesen und seine Glückseligkeit unverkennbar,<lb/>
und ob der Versuch die Wirklichkeit nach seiner innern Stim-<lb/>
mung zu finden oder zu bilden, glücke oder misslinge? davon<lb/>
hängt grösstentheils die höhere Vervollkommnung, oder die<lb/>
Erschlaffung seines Wesens ab. Vorzüglich stark ist dieser<lb/>
Einfluss bei den interessantesten Menschen, welche am zar-<lb/>
testen und leichtesten auffassen, und am tiefsten bewahren.<lb/>
Zu diesen kann man mit Recht im Ganzen mehr das weibliche,<lb/>
als das männliche Geschlecht rechnen, und daher hängt der<lb/>
Charakter des ersteren am meisten von der Art der Familien-<lb/>
verhältnisse in einer Nation ab. Von sehr vielen äusseren<lb/>
Beschäftigungen gänzlich frei; fast nur mit solchen umgeben,<lb/>
welche das innere Wesen beinah ungestört sich selbst über-<lb/>
lassen; stärker durch das, was sie zu sein, als was sie zu thun<lb/>
vermögen; ausdrucksvoller durch die stille, als die geäusserte<lb/>
Empfindung; mit aller Fähigkeit des unmittelbarsten, zeichen-<lb/>
losesten Ausdrucks, bei dem zarteren Körperbau, dem beweg-<lb/>
licheren Auge, der mehr ergreifenden Stimme, reicher ver-<lb/>
sehen; im Verhältniss gegen andre mehr bestimmt, zu erwar-<lb/>
ten und aufzunehmen, als entgegen zu kommen; schwächer<lb/>
für sich, und doch nicht darum, sondern aus Bewunderung der<lb/>
fremden Grösse und Stärke inniger anschliessend; in der Ver-<lb/>
bindung unaufhörlich strebend, mit dem vereinten Wesen zu<lb/>
empfangen, das Empfangene in sich zu bilden, und gebildet<lb/>
zurück zu geben; zugleich höher von dem Muthe beseelt,<lb/>
welchen Sorgfalt der Liebe, und Gefühl der Stärke einflösst,<lb/>
die nicht dem Widerstande aber dem Erliegen im Dulden<lb/>
trotzt &#x2014; sind die Weiber eigentlich dem Ideale der Mensch-<lb/>
heit <hi rendition="#g">näher</hi>, als der Mann; und wenn es nicht unwahr ist,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[27/0063] Verbindung mehr oder minder Selbstständigkeit behält? und eine unendliche Menge andrer Bestimmungen modifiziren anders und anders sein Verhältniss im ehelichen Leben. Wie das- selbe aber auch immer bestimmt sein mag; so ist die Wirkung davon auf sein Wesen und seine Glückseligkeit unverkennbar, und ob der Versuch die Wirklichkeit nach seiner innern Stim- mung zu finden oder zu bilden, glücke oder misslinge? davon hängt grösstentheils die höhere Vervollkommnung, oder die Erschlaffung seines Wesens ab. Vorzüglich stark ist dieser Einfluss bei den interessantesten Menschen, welche am zar- testen und leichtesten auffassen, und am tiefsten bewahren. Zu diesen kann man mit Recht im Ganzen mehr das weibliche, als das männliche Geschlecht rechnen, und daher hängt der Charakter des ersteren am meisten von der Art der Familien- verhältnisse in einer Nation ab. Von sehr vielen äusseren Beschäftigungen gänzlich frei; fast nur mit solchen umgeben, welche das innere Wesen beinah ungestört sich selbst über- lassen; stärker durch das, was sie zu sein, als was sie zu thun vermögen; ausdrucksvoller durch die stille, als die geäusserte Empfindung; mit aller Fähigkeit des unmittelbarsten, zeichen- losesten Ausdrucks, bei dem zarteren Körperbau, dem beweg- licheren Auge, der mehr ergreifenden Stimme, reicher ver- sehen; im Verhältniss gegen andre mehr bestimmt, zu erwar- ten und aufzunehmen, als entgegen zu kommen; schwächer für sich, und doch nicht darum, sondern aus Bewunderung der fremden Grösse und Stärke inniger anschliessend; in der Ver- bindung unaufhörlich strebend, mit dem vereinten Wesen zu empfangen, das Empfangene in sich zu bilden, und gebildet zurück zu geben; zugleich höher von dem Muthe beseelt, welchen Sorgfalt der Liebe, und Gefühl der Stärke einflösst, die nicht dem Widerstande aber dem Erliegen im Dulden trotzt — sind die Weiber eigentlich dem Ideale der Mensch- heit näher, als der Mann; und wenn es nicht unwahr ist,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Wilhelm von Humboldt schrieb seine 'Ideen zu eine… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851/63
Zitationshilfe: Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851/63>, abgerufen am 21.11.2024.