Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Humboldt, Alexander von: Über die Haupt-Ursachen der Temperatur-Verschiedenheit auf dem Erdkörper. In: Abhandlungen der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften in Berlin. Aus dem Jahre 1827. Berlin, 1830, S. 295-316.

Bild:
<< vorherige Seite

über die Temperatur-Verschiedenheit auf dem Erdkörper.
während daß die einzelnen Monate vom November bis zu Anfang Aprils, um 4
volle Grade mittlerer Temperatur, zu Paris wärmer als zu Berlin sind. Im Som-
mer, von Junius bis September, scheinen die Unterschiede sehr unbedeutend.

Die hier angeführten Zahlenverhältnisse sind eine Art mathematischer
Abstraction, und stimmen daher wenig mit der Erinnerung des Empfunde-
nen überein. Wir sind gewöhnt, die Stärke der sinnlichen Eindrücke von
Wärme und Kälte vorzüglich nach ihrer Succession zu bestimmen. Die
mittleren Temperaturen der Monate geben nur das allgemeine Schema; zu
einer vollständigen Kenntniß der klimatischen Verhältnisse genügt es nicht,
zu wissen, daß die mittlere Temperatur des Winters in Paris 2°,6 über dem
Gefrierpunkt, in Berlin 1/2 Grad unter dem Gefrierpunkt ist; wir verlangen
zu wissen, wie oft, in einer gegebenen Periode von Jahren, in jeder dieser
zwei Städte die Luft über 10 Grad Kälte, und über 25 Grad Wärme gezeigt
hat. Pflanzen, von denen einige einen langen Winterschlaf halten, und ihre
apendiculären Organe (Blätter) verlieren, andere in allen Jahreszeiten fort
vegetiren, noch andere einer großen Sommerwärme bedürfen, damit ihre
Früchte zur Reife kommen, sind die empfindlichsten, ja die lehrreichsten
Thermoskope. Ihr besseres oder schlechteres Gedeihen wird durch die
kleinsten Modificationen in der Vertheilung der Wärme und des Lichts be-
stimmt. Dunkle oder lichte Wärme wirken anders auf die Gewächse. Kein
Thermometer vermag die Temperatur zu messen, welche die unmittelbare
Berührung der Sonnenstrahlen im Innern des organischen Pflanzen-Gewebes
erzeugt. Ein Gemenge von Chlorgas und Hydrogen wird augenblicklich,
selbst beim niederen Stande der Sonne im December, durch directes Licht
mit Knall entzündet, wenn zerstreutes Licht nicht wirkt. Diese Betrach-
tungen erläutern die Vegetations-Verhältnisse der heiteren Continental-Kli-
mate und des neblichten Küstenhimmels, die Vegetations-Verhältnisse der
an festen, undurchsichtigen, lichtabsorbirenden Massen so reichen nörd-
lichen Hemisphäre und der fast ganz pelagischen, südlichen.

Wenn ich oft in diesem Vortrage der, in den beiden letzten Jahrzehn-
den schnell vermehrten Zahl meteorologischer Beobachtungen erwähne; so
will ich keinesweges darauf hindeuten, als sei die Vervollkommnung der
Klimatologie vorzugsweise auf eine solche Vermehrung gegründet. Hier,
wie in allen Aggregaten empirischer Kenntnisse, die zu früh Wissenschaften
genannt worden sind, kommt es "auf ein denkendes Begreifen der Natur",

Phys. Klasse 1827. Qq

über die Temperatur-Verschiedenheit auf dem Erdkörper.
während daß die einzelnen Monate vom November bis zu Anfang Aprils, um 4
volle Grade mittlerer Temperatur, zu Paris wärmer als zu Berlin sind. Im Som-
mer, von Junius bis September, scheinen die Unterschiede sehr unbedeutend.

Die hier angeführten Zahlenverhältnisse sind eine Art mathematischer
Abstraction, und stimmen daher wenig mit der Erinnerung des Empfunde-
nen überein. Wir sind gewöhnt, die Stärke der sinnlichen Eindrücke von
Wärme und Kälte vorzüglich nach ihrer Succession zu bestimmen. Die
mittleren Temperaturen der Monate geben nur das allgemeine Schema; zu
einer vollständigen Kenntniß der klimatischen Verhältnisse genügt es nicht,
zu wissen, daß die mittlere Temperatur des Winters in Paris 2°,6 über dem
Gefrierpunkt, in Berlin ½ Grad unter dem Gefrierpunkt ist; wir verlangen
zu wissen, wie oft, in einer gegebenen Periode von Jahren, in jeder dieser
zwei Städte die Luft über 10 Grad Kälte, und über 25 Grad Wärme gezeigt
hat. Pflanzen, von denen einige einen langen Winterschlaf halten, und ihre
apendiculären Organe (Blätter) verlieren, andere in allen Jahreszeiten fort
vegetiren, noch andere einer großen Sommerwärme bedürfen, damit ihre
Früchte zur Reife kommen, sind die empfindlichsten, ja die lehrreichsten
Thermoskope. Ihr besseres oder schlechteres Gedeihen wird durch die
kleinsten Modificationen in der Vertheilung der Wärme und des Lichts be-
stimmt. Dunkle oder lichte Wärme wirken anders auf die Gewächse. Kein
Thermometer vermag die Temperatur zu messen, welche die unmittelbare
Berührung der Sonnenstrahlen im Innern des organischen Pflanzen-Gewebes
erzeugt. Ein Gemenge von Chlorgas und Hydrogen wird augenblicklich,
selbst beim niederen Stande der Sonne im December, durch directes Licht
mit Knall entzündet, wenn zerstreutes Licht nicht wirkt. Diese Betrach-
tungen erläutern die Vegetations-Verhältnisse der heiteren Continental-Kli-
mate und des neblichten Küstenhimmels, die Vegetations-Verhältnisse der
an festen, undurchsichtigen, lichtabsorbirenden Massen so reichen nörd-
lichen Hemisphäre und der fast ganz pelagischen, südlichen.

Wenn ich oft in diesem Vortrage der, in den beiden letzten Jahrzehn-
den schnell vermehrten Zahl meteorologischer Beobachtungen erwähne; so
will ich keinesweges darauf hindeuten, als sei die Vervollkommnung der
Klimatologie vorzugsweise auf eine solche Vermehrung gegründet. Hier,
wie in allen Aggregaten empirischer Kenntnisse, die zu früh Wissenschaften
genannt worden sind, kommt es „auf ein denkendes Begreifen der Natur“,

Phys. Klasse 1827. Qq
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0012" n="305"/><fw type="header" place="top"><hi rendition="#i">über die Temperatur-Verschiedenheit auf dem Erdkörper.</hi></fw><lb/>
während daß die einzelnen Monate vom November bis zu Anfang Aprils, um 4<lb/>
volle Grade mittlerer Temperatur, zu <placeName>Paris</placeName> wärmer als zu <placeName>Berlin</placeName> sind. Im Som-<lb/>
mer, von Junius bis September, scheinen die Unterschiede sehr unbedeutend.</p><lb/>
        <p>Die hier angeführten Zahlenverhältnisse sind eine Art mathematischer<lb/>
Abstraction, und stimmen daher wenig mit der Erinnerung des Empfunde-<lb/>
nen überein. Wir sind gewöhnt, die Stärke der sinnlichen Eindrücke von<lb/>
Wärme und Kälte vorzüglich nach ihrer Succession zu bestimmen. Die<lb/>
mittleren Temperaturen der Monate geben nur das allgemeine Schema; zu<lb/>
einer vollständigen Kenntniß der klimatischen Verhältnisse genügt es nicht,<lb/>
zu wissen, daß die mittlere Temperatur des Winters in Paris 2°,6 über dem<lb/>
Gefrierpunkt, in Berlin ½ Grad unter dem Gefrierpunkt ist; wir verlangen<lb/>
zu wissen, wie oft, in einer gegebenen Periode von Jahren, in jeder dieser<lb/>
zwei Städte die Luft über 10 Grad Kälte, und über 25 Grad Wärme gezeigt<lb/>
hat. Pflanzen, von denen einige einen langen Winterschlaf halten, und ihre<lb/>
apendiculären Organe (Blätter) verlieren, andere in allen Jahreszeiten fort<lb/>
vegetiren, noch andere einer großen Sommerwärme bedürfen, damit ihre<lb/>
Früchte zur Reife kommen, sind die empfindlichsten, ja die lehrreichsten<lb/>
Thermoskope. Ihr besseres oder schlechteres Gedeihen wird durch die<lb/>
kleinsten Modificationen in der Vertheilung der Wärme und des Lichts be-<lb/>
stimmt. Dunkle oder lichte Wärme wirken anders auf die Gewächse. Kein<lb/>
Thermometer vermag die Temperatur zu messen, welche die unmittelbare<lb/>
Berührung der Sonnenstrahlen im Innern des organischen Pflanzen-Gewebes<lb/>
erzeugt. Ein Gemenge von Chlorgas und Hydrogen wird augenblicklich,<lb/>
selbst beim niederen Stande der Sonne im December, durch directes Licht<lb/>
mit Knall entzündet, wenn zerstreutes Licht nicht wirkt. Diese Betrach-<lb/>
tungen erläutern die Vegetations-Verhältnisse der heiteren Continental-Kli-<lb/>
mate und des neblichten Küstenhimmels, die Vegetations-Verhältnisse der<lb/>
an festen, undurchsichtigen, lichtabsorbirenden Massen so reichen nörd-<lb/>
lichen Hemisphäre und der fast ganz pelagischen, südlichen.</p><lb/>
        <p>Wenn ich oft in diesem Vortrage der, in den beiden letzten Jahrzehn-<lb/>
den schnell vermehrten Zahl meteorologischer Beobachtungen erwähne; so<lb/>
will ich keinesweges darauf hindeuten, als sei die Vervollkommnung der<lb/>
Klimatologie vorzugsweise auf eine solche Vermehrung gegründet. Hier,<lb/>
wie in allen Aggregaten empirischer Kenntnisse, die zu früh Wissenschaften<lb/>
genannt worden sind, kommt es &#x201E;auf ein denkendes Begreifen der Natur&#x201C;,<lb/>
<fw type="sig" place="bottom"><hi rendition="#i">Phys. Klasse</hi> 1827. Qq</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[305/0012] über die Temperatur-Verschiedenheit auf dem Erdkörper. während daß die einzelnen Monate vom November bis zu Anfang Aprils, um 4 volle Grade mittlerer Temperatur, zu Paris wärmer als zu Berlin sind. Im Som- mer, von Junius bis September, scheinen die Unterschiede sehr unbedeutend. Die hier angeführten Zahlenverhältnisse sind eine Art mathematischer Abstraction, und stimmen daher wenig mit der Erinnerung des Empfunde- nen überein. Wir sind gewöhnt, die Stärke der sinnlichen Eindrücke von Wärme und Kälte vorzüglich nach ihrer Succession zu bestimmen. Die mittleren Temperaturen der Monate geben nur das allgemeine Schema; zu einer vollständigen Kenntniß der klimatischen Verhältnisse genügt es nicht, zu wissen, daß die mittlere Temperatur des Winters in Paris 2°,6 über dem Gefrierpunkt, in Berlin ½ Grad unter dem Gefrierpunkt ist; wir verlangen zu wissen, wie oft, in einer gegebenen Periode von Jahren, in jeder dieser zwei Städte die Luft über 10 Grad Kälte, und über 25 Grad Wärme gezeigt hat. Pflanzen, von denen einige einen langen Winterschlaf halten, und ihre apendiculären Organe (Blätter) verlieren, andere in allen Jahreszeiten fort vegetiren, noch andere einer großen Sommerwärme bedürfen, damit ihre Früchte zur Reife kommen, sind die empfindlichsten, ja die lehrreichsten Thermoskope. Ihr besseres oder schlechteres Gedeihen wird durch die kleinsten Modificationen in der Vertheilung der Wärme und des Lichts be- stimmt. Dunkle oder lichte Wärme wirken anders auf die Gewächse. Kein Thermometer vermag die Temperatur zu messen, welche die unmittelbare Berührung der Sonnenstrahlen im Innern des organischen Pflanzen-Gewebes erzeugt. Ein Gemenge von Chlorgas und Hydrogen wird augenblicklich, selbst beim niederen Stande der Sonne im December, durch directes Licht mit Knall entzündet, wenn zerstreutes Licht nicht wirkt. Diese Betrach- tungen erläutern die Vegetations-Verhältnisse der heiteren Continental-Kli- mate und des neblichten Küstenhimmels, die Vegetations-Verhältnisse der an festen, undurchsichtigen, lichtabsorbirenden Massen so reichen nörd- lichen Hemisphäre und der fast ganz pelagischen, südlichen. Wenn ich oft in diesem Vortrage der, in den beiden letzten Jahrzehn- den schnell vermehrten Zahl meteorologischer Beobachtungen erwähne; so will ich keinesweges darauf hindeuten, als sei die Vervollkommnung der Klimatologie vorzugsweise auf eine solche Vermehrung gegründet. Hier, wie in allen Aggregaten empirischer Kenntnisse, die zu früh Wissenschaften genannt worden sind, kommt es „auf ein denkendes Begreifen der Natur“, Phys. Klasse 1827. Qq

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Weitere Informationen:

Eine weitere Fassung dieses Textes finden Sie in der Ausgabe Sämtliche Schriften digital (2021 ff.) der Universität Bern.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_ursachen_1830
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_ursachen_1830/12
Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Über die Haupt-Ursachen der Temperatur-Verschiedenheit auf dem Erdkörper. In: Abhandlungen der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften in Berlin. Aus dem Jahre 1827. Berlin, 1830, S. 295-316, hier S. 305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_ursachen_1830/12>, abgerufen am 21.11.2024.