Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Humboldt, Alexander von: Vorwort von Alexander v. Humboldt. In: Humboldt, Wilhelm von: Sonette. Berlin, 1853, S. [III]-XVI.

Bild:
<< vorherige Seite

tödten, wenn Gott das Gebot nicht zu tödten in das
Herz des Menschen gelegt hat.

"Die Religion der Griechen war nicht poetischer als
das Christenthum, sie war nur sinnlicher.

"Die Griechen haben eben nichts durch Vollkommen-
heit der moralischen Bildung geglänzt.

"2) eine Grundlage der Erkenntniß.

"Wer nicht über die wichtigsten Wahrheiten oft
gründlich nachgedacht, wer nicht Kenntnisse im gehörigen
Maaße gesammelt hat, der versteht den Dichter nur
halb, und auf den übt die Poesie nur eine vorüber-
gehende, leicht von ihm abgleitende Wirkung aus. Er
meidet vielleicht das Rohe und Gemeine, aber es bleibt
in ihm eine betrübende Leere.

"Die Poesie verführt wohl zu der Einbildung, daß
man diese Grundlagen entbehren könne; aber dies ist nicht
ihre Schuld, sondern die Schuld derer, die sie misverstehen.
Shakespeare, Schiller und Göthe würden alle Leser zurück-
weisen, welchen es an jenen Grundlagen fehlt, oder die nicht
wenigstens ernstliches Bemühen zeigen, sie sich zu verschaffen.

"Wo aber jene Grundlagen vorhanden sind, da be-
ginnt der wohlthätige Einfluß der Poesie auf die mora-
lische Bildung, ein Einfluß der nie zu hoch angeschlagen
werden kann.

"Die Poesie wirkt darin zuerst wie die Sittenlehre
und die Religion selbst; sie wirkt mit der Macht, die
sie, gerade als Poesie, über den Menschen ausübt.

tödten, wenn Gott das Gebot nicht zu tödten in das
Herz des Menſchen gelegt hat.

„Die Religion der Griechen war nicht poetiſcher als
das Chriſtenthum, ſie war nur ſinnlicher.

„Die Griechen haben eben nichts durch Vollkommen-
heit der moraliſchen Bildung geglänzt.

„2) eine Grundlage der Erkenntniß.

„Wer nicht über die wichtigſten Wahrheiten oft
gründlich nachgedacht, wer nicht Kenntniſſe im gehörigen
Maaße geſammelt hat, der verſteht den Dichter nur
halb, und auf den übt die Poeſie nur eine vorüber-
gehende, leicht von ihm abgleitende Wirkung aus. Er
meidet vielleicht das Rohe und Gemeine, aber es bleibt
in ihm eine betrübende Leere.

„Die Poeſie verführt wohl zu der Einbildung, daß
man dieſe Grundlagen entbehren könne; aber dies iſt nicht
ihre Schuld, ſondern die Schuld derer, die ſie misverſtehen.
Shakeſpeare, Schiller und Göthe würden alle Leſer zurück-
weiſen, welchen es an jenen Grundlagen fehlt, oder die nicht
wenigſtens ernſtliches Bemühen zeigen, ſie ſich zu verſchaffen.

„Wo aber jene Grundlagen vorhanden ſind, da be-
ginnt der wohlthätige Einfluß der Poeſie auf die mora-
liſche Bildung, ein Einfluß der nie zu hoch angeſchlagen
werden kann.

„Die Poeſie wirkt darin zuerſt wie die Sittenlehre
und die Religion ſelbſt; ſie wirkt mit der Macht, die
ſie, gerade als Poeſie, über den Menſchen ausübt.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="preface">
        <p><pb facs="#f0015" n="XIV"/>
tödten, wenn Gott das Gebot nicht zu tödten in das<lb/>
Herz des Men&#x017F;chen gelegt hat.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Die Religion der Griechen war nicht poeti&#x017F;cher als<lb/>
das Chri&#x017F;tenthum, &#x017F;ie war nur &#x017F;innlicher.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Die Griechen haben eben nichts durch Vollkommen-<lb/>
heit der morali&#x017F;chen Bildung geglänzt.</p><lb/>
        <p>&#x201E;2) eine <hi rendition="#g">Grundlage der Erkenntniß</hi>.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Wer nicht über die wichtig&#x017F;ten Wahrheiten oft<lb/>
gründlich nachgedacht, wer nicht Kenntni&#x017F;&#x017F;e im gehörigen<lb/>
Maaße ge&#x017F;ammelt hat, der ver&#x017F;teht den Dichter nur<lb/>
halb, und auf den übt die Poe&#x017F;ie nur eine vorüber-<lb/>
gehende, leicht von ihm abgleitende Wirkung aus. Er<lb/>
meidet vielleicht das Rohe und Gemeine, aber es bleibt<lb/>
in ihm eine betrübende Leere.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Die Poe&#x017F;ie verführt wohl zu der Einbildung, daß<lb/>
man die&#x017F;e Grundlagen entbehren könne; aber dies i&#x017F;t nicht<lb/>
ihre Schuld, &#x017F;ondern die Schuld derer, die &#x017F;ie misver&#x017F;tehen.<lb/>
Shake&#x017F;peare, Schiller und Göthe würden alle Le&#x017F;er zurück-<lb/>
wei&#x017F;en, welchen es an jenen Grundlagen fehlt, oder die nicht<lb/>
wenig&#x017F;tens ern&#x017F;tliches Bemühen zeigen, &#x017F;ie &#x017F;ich zu ver&#x017F;chaffen.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Wo aber jene Grundlagen vorhanden &#x017F;ind, da be-<lb/>
ginnt der wohlthätige Einfluß der Poe&#x017F;ie auf die mora-<lb/>
li&#x017F;che Bildung, ein Einfluß der nie zu hoch ange&#x017F;chlagen<lb/>
werden kann.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Die Poe&#x017F;ie wirkt darin zuer&#x017F;t wie die Sittenlehre<lb/>
und die Religion &#x017F;elb&#x017F;t; &#x017F;ie wirkt mit der Macht, die<lb/>
&#x017F;ie, gerade als Poe&#x017F;ie, über den Men&#x017F;chen ausübt.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[XIV/0015] tödten, wenn Gott das Gebot nicht zu tödten in das Herz des Menſchen gelegt hat. „Die Religion der Griechen war nicht poetiſcher als das Chriſtenthum, ſie war nur ſinnlicher. „Die Griechen haben eben nichts durch Vollkommen- heit der moraliſchen Bildung geglänzt. „2) eine Grundlage der Erkenntniß. „Wer nicht über die wichtigſten Wahrheiten oft gründlich nachgedacht, wer nicht Kenntniſſe im gehörigen Maaße geſammelt hat, der verſteht den Dichter nur halb, und auf den übt die Poeſie nur eine vorüber- gehende, leicht von ihm abgleitende Wirkung aus. Er meidet vielleicht das Rohe und Gemeine, aber es bleibt in ihm eine betrübende Leere. „Die Poeſie verführt wohl zu der Einbildung, daß man dieſe Grundlagen entbehren könne; aber dies iſt nicht ihre Schuld, ſondern die Schuld derer, die ſie misverſtehen. Shakeſpeare, Schiller und Göthe würden alle Leſer zurück- weiſen, welchen es an jenen Grundlagen fehlt, oder die nicht wenigſtens ernſtliches Bemühen zeigen, ſie ſich zu verſchaffen. „Wo aber jene Grundlagen vorhanden ſind, da be- ginnt der wohlthätige Einfluß der Poeſie auf die mora- liſche Bildung, ein Einfluß der nie zu hoch angeſchlagen werden kann. „Die Poeſie wirkt darin zuerſt wie die Sittenlehre und die Religion ſelbſt; ſie wirkt mit der Macht, die ſie, gerade als Poeſie, über den Menſchen ausübt.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Weitere Informationen:

Eine weitere Fassung dieses Textes finden Sie in der Ausgabe Sämtliche Schriften digital (2021 ff.) der Universität Bern.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_vorwort_1853
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_vorwort_1853/15
Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Vorwort von Alexander v. Humboldt. In: Humboldt, Wilhelm von: Sonette. Berlin, 1853, S. [III]-XVI, S. XIV. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_vorwort_1853/15>, abgerufen am 16.10.2024.