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Humboldt, Alexander von: Vorwort von Alexander von Humboldt. In: Möllhausen, Balduin: Tagebuch einer Reise vom Mississippi nach den Küsten der Südsee. Leipzig, 1858, S. [I]-VIII.

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Die Horden, welche zwischen Neu-Mexico und dem Rio Gila leben, ziehen aus
örtlichen Ursachen noch darum die Aufmerkssmkeit auf sich, weil sie auf der Strasse
der grossen Völkerzüge zerstreut sind, die, von Norden gegen Süden gerichtet, vom
sechsten bis zum zwölften Jahrhundert unter den Namen der Tolteken, der Chichime-
ken, der Nahuatlaken und der Azteken das südliche tropische Mexico durchwandert und
theilweise bevölkert haben. Bauwerke und Reste des Kunstfleisses dieser, zu einer Art
höherer Cultur gelangten. Nationen sind übrig geblieben. Man bezeichnet noch, durch
alte Traditionen und historische Malereien geleitet, die verschiedenen Stationen,
d. h. das Verweilen der Azteken am Rio Gila und an mehreren süd-süd-östlichen Punk-
ten. Es sind dieselben in meinem mexicanischen Atlas angegeben: und die 1846
vom Ingenieur-Lieutenant W. Abert und später von Möllhausen gesehene, viel-
stöckige Bauart grosser Familienhäuser Casas grandes, zu denen man durch, nächtlich
eingezogene, Leitern aufstieg, bietet noch jetzt Analogien der Construction bei einzelnen
Stämmen.

Da die übrig gebliebenen, zum Theil gigantesken Sculpturen, wie die Unzahl
religiöser und historischer Malereien der pyramidenbauenden, der Jahrescyclen kundi-
gen Tolteken und Azteken sehr übereinstimmend menschliche Gestalten darstellen, deren
physiognomischer Charakter besonders in Hinsicht der Stirn und der ausserordentlich gros-
sen, weit hervortretenden Habichtsnasen von der Bildung der jetzt Mexico, Guatemala
und Nicaragua in der Zahl vieler Millionen bewohnenden, ackerbautreibenden Einge-
borenen abweicht: so ist von grosser ethnographischer Wichtigkeit die Lösung des,
schon von dem geistreichen Catlin behandelten, Problems, ob und wo unter den nörd-
lichen Stämmen sich Gestalten und Gesichtsbildungen finden lassen, die nicht bloss als
Individuen, sondern racenweise mit den älteren monumentalen übereinstimmen. Sollten
nicht bei der amerikanischen nord-südlichen Völkerwanderung, wie bei der asiatischen
ost-westlichen, zu welcher der Anfall der Hiungnu auf die blonden Yueti und Usün
den frühesten Anstoss gab, nördlich vom Gila, wie dort im Caucasus auf dem ponti-
schen Isthmus, einzelne Stämme zurückgeblieben sein? Alles, was in dem Neuen Con-
tinent mit den gewagten Vermuthungen über die Quelle eines gewissen Grades erlang-
ter Civilisation, was mit den Ursitzen der wandernden Völker Huehuetlapallan,
Aztlan und Quivira zusammenhängt, fällt bisher wie in den Abgrund der histori-
schen Mythen. Unglaube an eine befriedigende Lösung des Problems bei dem bisheri-
gen noch so bedauernswürdigen Mangel von Materialien, darf aber nicht dem fortge-
setzten Bestreben nach muthiger Forschung Schranken setzen. Die Frage nach solchen
Überbleibseln der wandernden Völker im Norden findet in Catlin's auf dem Ber-
liner Museum aufbewahrten Ölbildern wie in Möllhausen's Zeichnungen man-
nichfaltige Befriedigung. Auch hat sie eine werthvolle Arbeit auf dem Felde der
Sprachen veranlasst, welche die Spuren des Azteken-Idioms nahuatl auf der Westseite
des nördlichen Amerika's verfolgt. Professor Buschmann, mein talentvoller, vieljähriger

Die Horden, welche zwischen Neu-Mexico und dem Rio Gila leben, ziehen aus
örtlichen Ursachen noch darum die Aufmerkssmkeit auf sich, weil sie auf der Strasse
der grossen Völkerzüge zerstreut sind, die, von Norden gegen Süden gerichtet, vom
sechsten bis zum zwölften Jahrhundert unter den Namen der Tolteken, der Chichime-
ken, der Nahuatlaken und der Azteken das südliche tropische Mexico durchwandert und
theilweise bevölkert haben. Bauwerke und Reste des Kunstfleisses dieser, zu einer Art
höherer Cultur gelangten. Nationen sind übrig geblieben. Man bezeichnet noch, durch
alte Traditionen und historische Malereien geleitet, die verschiedenen Stationen,
d. h. das Verweilen der Azteken am Rio Gila und an mehreren süd-süd-östlichen Punk-
ten. Es sind dieselben in meinem mexicanischen Atlas angegeben: und die 1846
vom Ingenieur-Lieutenant W. Abert und später von Möllhausen gesehene, viel-
stöckige Bauart grosser Familienhäuser Casas grandes, zu denen man durch, nächtlich
eingezogene, Leitern aufstieg, bietet noch jetzt Analogien der Construction bei einzelnen
Stämmen.

Da die übrig gebliebenen, zum Theil gigantesken Sculpturen, wie die Unzahl
religiöser und historischer Malereien der pyramidenbauenden, der Jahrescyclen kundi-
gen Tolteken und Azteken sehr übereinstimmend menschliche Gestalten darstellen, deren
physiognomischer Charakter besonders in Hinsicht der Stirn und der ausserordentlich gros-
sen, weit hervortretenden Habichtsnasen von der Bildung der jetzt Mexico, Guatemala
und Nicaragua in der Zahl vieler Millionen bewohnenden, ackerbautreibenden Einge-
borenen abweicht: so ist von grosser ethnographischer Wichtigkeit die Lösung des,
schon von dem geistreichen Catlin behandelten, Problems, ob und wo unter den nörd-
lichen Stämmen sich Gestalten und Gesichtsbildungen finden lassen, die nicht bloss als
Individuen, sondern racenweise mit den älteren monumentalen übereinstimmen. Sollten
nicht bei der amerikanischen nord-südlichen Völkerwanderung, wie bei der asiatischen
ost-westlichen, zu welcher der Anfall der Hiungnu auf die blonden Yueti und Usün
den frühesten Anstoss gab, nördlich vom Gila, wie dort im Caucasus auf dem ponti-
schen Isthmus, einzelne Stämme zurückgeblieben sein? Alles, was in dem Neuen Con-
tinent mit den gewagten Vermuthungen über die Quelle eines gewissen Grades erlang-
ter Civilisation, was mit den Ursitzen der wandernden Völker Huehuetlapallan,
Aztlan und Quivira zusammenhängt, fällt bisher wie in den Abgrund der histori-
schen Mythen. Unglaube an eine befriedigende Lösung des Problems bei dem bisheri-
gen noch so bedauernswürdigen Mangel von Materialien, darf aber nicht dem fortge-
setzten Bestreben nach muthiger Forschung Schranken setzen. Die Frage nach solchen
Überbleibseln der wandernden Völker im Norden findet in Catlin's auf dem Ber-
liner Museum aufbewahrten Ölbildern wie in Möllhausen's Zeichnungen man-
nichfaltige Befriedigung. Auch hat sie eine werthvolle Arbeit auf dem Felde der
Sprachen veranlasst, welche die Spuren des Azteken-Idioms nahuatl auf der Westseite
des nördlichen Amerika's verfolgt. Professor Buschmann, mein talentvoller, vieljähriger

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[III/0005] Die Horden, welche zwischen Neu-Mexico und dem Rio Gila leben, ziehen aus örtlichen Ursachen noch darum die Aufmerkssmkeit auf sich, weil sie auf der Strasse der grossen Völkerzüge zerstreut sind, die, von Norden gegen Süden gerichtet, vom sechsten bis zum zwölften Jahrhundert unter den Namen der Tolteken, der Chichime- ken, der Nahuatlaken und der Azteken das südliche tropische Mexico durchwandert und theilweise bevölkert haben. Bauwerke und Reste des Kunstfleisses dieser, zu einer Art höherer Cultur gelangten. Nationen sind übrig geblieben. Man bezeichnet noch, durch alte Traditionen und historische Malereien geleitet, die verschiedenen Stationen, d. h. das Verweilen der Azteken am Rio Gila und an mehreren süd-süd-östlichen Punk- ten. Es sind dieselben in meinem mexicanischen Atlas angegeben: und die 1846 vom Ingenieur-Lieutenant W. Abert und später von Möllhausen gesehene, viel- stöckige Bauart grosser Familienhäuser Casas grandes, zu denen man durch, nächtlich eingezogene, Leitern aufstieg, bietet noch jetzt Analogien der Construction bei einzelnen Stämmen. Da die übrig gebliebenen, zum Theil gigantesken Sculpturen, wie die Unzahl religiöser und historischer Malereien der pyramidenbauenden, der Jahrescyclen kundi- gen Tolteken und Azteken sehr übereinstimmend menschliche Gestalten darstellen, deren physiognomischer Charakter besonders in Hinsicht der Stirn und der ausserordentlich gros- sen, weit hervortretenden Habichtsnasen von der Bildung der jetzt Mexico, Guatemala und Nicaragua in der Zahl vieler Millionen bewohnenden, ackerbautreibenden Einge- borenen abweicht: so ist von grosser ethnographischer Wichtigkeit die Lösung des, schon von dem geistreichen Catlin behandelten, Problems, ob und wo unter den nörd- lichen Stämmen sich Gestalten und Gesichtsbildungen finden lassen, die nicht bloss als Individuen, sondern racenweise mit den älteren monumentalen übereinstimmen. Sollten nicht bei der amerikanischen nord-südlichen Völkerwanderung, wie bei der asiatischen ost-westlichen, zu welcher der Anfall der Hiungnu auf die blonden Yueti und Usün den frühesten Anstoss gab, nördlich vom Gila, wie dort im Caucasus auf dem ponti- schen Isthmus, einzelne Stämme zurückgeblieben sein? Alles, was in dem Neuen Con- tinent mit den gewagten Vermuthungen über die Quelle eines gewissen Grades erlang- ter Civilisation, was mit den Ursitzen der wandernden Völker Huehuetlapallan, Aztlan und Quivira zusammenhängt, fällt bisher wie in den Abgrund der histori- schen Mythen. Unglaube an eine befriedigende Lösung des Problems bei dem bisheri- gen noch so bedauernswürdigen Mangel von Materialien, darf aber nicht dem fortge- setzten Bestreben nach muthiger Forschung Schranken setzen. Die Frage nach solchen Überbleibseln der wandernden Völker im Norden findet in Catlin's auf dem Ber- liner Museum aufbewahrten Ölbildern wie in Möllhausen's Zeichnungen man- nichfaltige Befriedigung. Auch hat sie eine werthvolle Arbeit auf dem Felde der Sprachen veranlasst, welche die Spuren des Azteken-Idioms nahuatl auf der Westseite des nördlichen Amerika's verfolgt. Professor Buschmann, mein talentvoller, vieljähriger

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Vorwort von Alexander von Humboldt. In: Möllhausen, Balduin: Tagebuch einer Reise vom Mississippi nach den Küsten der Südsee. Leipzig, 1858, S. [I]-VIII, S. III. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_vorwort_1858/5>, abgerufen am 27.04.2024.