Witte, der Wunderbalg, akademische Vorlesungen halten. Jm sechszehnten falliren sie das erste, und im achtzehnten das zweite Mal; im neunzehnten werden sie Greise; im zwanzigsten gelangen sie zu hohen Aemtern und Würden. Jm zwei und zwan- zigsten sind sie des Lebens satt und überdrüßig; im drei und zwanzigsten werden sie wieder kindisch, und vom vier und zwanzigsten bis zum fünf und zwanzigsten Jahre sterben sie an Entkräftung und Alterschwäche.
Obgleich wir also gerne zugeben, daß die Men- schen der Urzeit ein viel höheres Alter erreichen mochten, als wir; so spielen doch jene Erzählungen von der langen Lebensdauer unserer erstern Stamm- väter zu sehr in das Orientalischwunderbare hinein, als daß wir sie mit den Gesetzen der Natur ver- einbarlich finden könnten. Mit dem Wort Jahr verband man in der hebräischen Sprache wahrschein- lich sehr verschiedene Begriffe, und daher erklärt es sich leicht, daß Väter, die fünfhundert und meh- rere Jahre alt wurden, Söhne und Enkel hatten, die kaum ihr achtzigstes oder hundertstes Jahr er- reichten. Ueberhaupt müssen wir die mosaischen Bücher, besonders das erste, als eine Sammlung morgenländischer Mythen betrachten, die durchaus nicht wörtlich zu nehmen sind. "Nicht blos der Aufzeichner, sagt Eichhorn, sondern schon Jahr- hunderte vor ihm betrachteten alle Begebenheiten im Nebel der vergangenen Zeit. Stellt die Einbil- dungskraft jetzt noch, wo ihr doch die Flügel durch eine philosophische Sprache stark beschnitten sind, alles Vergangene größer, prächtiger und herrlicher vor; wie weit mehr in den ältern Zeiten, wo man der Einbildungskraft weit freiern Spielraum gab, und sie fliegen ließ, wie und wie weit sie wollte. Was Wunder nun, wenn die ältern Zeiten in lau- ter goldenen Farben erscheinen, oder mit Hunder-
Witte, der Wunderbalg, akademiſche Vorleſungen halten. Jm ſechszehnten falliren ſie das erſte, und im achtzehnten das zweite Mal; im neunzehnten werden ſie Greiſe; im zwanzigſten gelangen ſie zu hohen Aemtern und Wuͤrden. Jm zwei und zwan- zigſten ſind ſie des Lebens ſatt und uͤberdruͤßig; im drei und zwanzigſten werden ſie wieder kindiſch, und vom vier und zwanzigſten bis zum fuͤnf und zwanzigſten Jahre ſterben ſie an Entkraͤftung und Alterſchwaͤche.
Obgleich wir alſo gerne zugeben, daß die Men- ſchen der Urzeit ein viel hoͤheres Alter erreichen mochten, als wir; ſo ſpielen doch jene Erzaͤhlungen von der langen Lebensdauer unſerer erſtern Stamm- vaͤter zu ſehr in das Orientaliſchwunderbare hinein, als daß wir ſie mit den Geſetzen der Natur ver- einbarlich finden koͤnnten. Mit dem Wort Jahr verband man in der hebraͤiſchen Sprache wahrſchein- lich ſehr verſchiedene Begriffe, und daher erklaͤrt es ſich leicht, daß Vaͤter, die fuͤnfhundert und meh- rere Jahre alt wurden, Soͤhne und Enkel hatten, die kaum ihr achtzigſtes oder hundertſtes Jahr er- reichten. Ueberhaupt muͤſſen wir die moſaiſchen Buͤcher, beſonders das erſte, als eine Sammlung morgenlaͤndiſcher Mythen betrachten, die durchaus nicht woͤrtlich zu nehmen ſind. »Nicht blos der Aufzeichner, ſagt Eichhorn, ſondern ſchon Jahr- hunderte vor ihm betrachteten alle Begebenheiten im Nebel der vergangenen Zeit. Stellt die Einbil- dungskraft jetzt noch, wo ihr doch die Fluͤgel durch eine philoſophiſche Sprache ſtark beſchnitten ſind, alles Vergangene groͤßer, praͤchtiger und herrlicher vor; wie weit mehr in den aͤltern Zeiten, wo man der Einbildungskraft weit freiern Spielraum gab, und ſie fliegen ließ, wie und wie weit ſie wollte. Was Wunder nun, wenn die aͤltern Zeiten in lau- ter goldenen Farben erſcheinen, oder mit Hunder-
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Witte, der Wunderbalg, akademiſche Vorleſungen
halten. Jm ſechszehnten falliren ſie das erſte, und
im achtzehnten das zweite Mal; im neunzehnten
werden ſie Greiſe; im zwanzigſten gelangen ſie zu
hohen Aemtern und Wuͤrden. Jm zwei und zwan-
zigſten ſind ſie des Lebens ſatt und uͤberdruͤßig; im
drei und zwanzigſten werden ſie wieder kindiſch,
und vom vier und zwanzigſten bis zum fuͤnf und
zwanzigſten Jahre ſterben ſie an Entkraͤftung und
Alterſchwaͤche.
Obgleich wir alſo gerne zugeben, daß die Men-
ſchen der Urzeit ein viel hoͤheres Alter erreichen
mochten, als wir; ſo ſpielen doch jene Erzaͤhlungen
von der langen Lebensdauer unſerer erſtern Stamm-
vaͤter zu ſehr in das Orientaliſchwunderbare hinein,
als daß wir ſie mit den Geſetzen der Natur ver-
einbarlich finden koͤnnten. Mit dem Wort Jahr
verband man in der hebraͤiſchen Sprache wahrſchein-
lich ſehr verſchiedene Begriffe, und daher erklaͤrt
es ſich leicht, daß Vaͤter, die fuͤnfhundert und meh-
rere Jahre alt wurden, Soͤhne und Enkel hatten,
die kaum ihr achtzigſtes oder hundertſtes Jahr er-
reichten. Ueberhaupt muͤſſen wir die moſaiſchen
Buͤcher, beſonders das erſte, als eine Sammlung
morgenlaͤndiſcher Mythen betrachten, die durchaus
nicht woͤrtlich zu nehmen ſind. »Nicht blos der
Aufzeichner, ſagt Eichhorn, ſondern ſchon Jahr-
hunderte vor ihm betrachteten alle Begebenheiten im
Nebel der vergangenen Zeit. Stellt die Einbil-
dungskraft jetzt noch, wo ihr doch die Fluͤgel durch
eine philoſophiſche Sprache ſtark beſchnitten ſind,
alles Vergangene groͤßer, praͤchtiger und herrlicher
vor; wie weit mehr in den aͤltern Zeiten, wo man
der Einbildungskraft weit freiern Spielraum gab,
und ſie fliegen ließ, wie und wie weit ſie wollte.
Was Wunder nun, wenn die aͤltern Zeiten in lau-
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Hundt-Radowsky, Hartwig: Die Judenschule, oder gründliche Anleitung, in kurzer Zeit ein vollkommener schwarzer oder weißer Jude zu werden. Bd. 1. Jerusalem [i. e. Aarau], 1822, S. 324. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hundtradowsky_judenschule01_1822/358>, abgerufen am 24.11.2024.
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