Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.sie auch andere Menschen beleidigt haben möge. Sie nahm ſie auch andere Menſchen beleidigt haben moͤge. Sie nahm <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0102" n="94"/> ſie auch andere Menſchen beleidigt haben moͤge. Sie nahm<lb/> es ſich daher feſt vor, einen beſſeren Lebenswandel zu fuͤhren,<lb/> ſich von ihren bisherigen aberwitzigen Wuͤnſchen und Hoffnun¬<lb/> gen loszureißen, und um ſich in dieſem Vorſatze zu beſtaͤrken,<lb/> beſchloß ſie, jenes Bild zu kaufen und in ihrem Schlafzim¬<lb/> mer aufzuhaͤngen, um durch deſſen Betrachtung ihre Beſinnung<lb/> wieder zuruͤckzurufen. Jedoch dieſe letzte Regung ihrer gegen<lb/> den beginnenden Wahn ohnmaͤchtig ankaͤmpfenden Vernunft<lb/> wurde bald erſtickt; denn da die Kranke alle ihre Lebens¬<lb/> intereſſen in die Hoffnung auf den Beſitz des Verſtorbenen<lb/> zuſammengefaßt hatte, und da dieſe Hoffnung ihrer Natur<lb/> nach alle Grenzen der Wirklichkeit uͤberfliegen, dem Tode ſeine<lb/> Beute wieder abjagen, alſo die Moͤglichkeit ihrer Erfuͤllung<lb/> von einer unmittelbaren Gnadenwirkung Gottes abhaͤngig ma¬<lb/> chen mußte, ſo waren hiermit alle Elemente gegeben, aus<lb/> denen ſich der Wahn in ihrem Bewußtſein conſtruirte. Mit<lb/> anderen Worten, ohne fruͤher irgend eine Neigung zur reli¬<lb/> gioͤſen Schwaͤrmerei zu haben, mußte letztere doch gleichſam den<lb/> Einſchlag in den Aufzug des Gewebes ihrer irrſinnigen Faſe¬<lb/> leien geben, denn nur durch Gott konnte ſie zu ihrem Ge¬<lb/> liebten kommen; kein Wunder daher, daß die heiße Sehnſucht<lb/> nach dem letzteren in ihr eine monſtroͤſe Froͤmmigkeit erzeugte,<lb/> deren krankhafter Charakter alle Vorſtellungen von Gott zum<lb/> grellſten Unſinn verzerrte. Hiermit iſt wiederum nichts In¬<lb/> dividuelles, welches nur unſre Kranke betreffen koͤnnte, gege¬<lb/> ben, ſondern wir finden darin das allgemeine Geſetz zahlloſer<lb/> Thatſachen, welche darin uͤbereinſtimmen, daß der Menſch,<lb/> ſelbſt wenn er das religioͤſe Bewußtſein im fruͤheren Leben<lb/> unentwickelt gelaſſen, ja gefliſſentlich in ſich darnieder gehalten<lb/> hat, zu den ſtaͤrkſten Regungen deſſelben erwacht, wenn ein<lb/> ihn maͤchtig ergreifendes Schickſal ihn letztere zu einem tief ge¬<lb/> fuͤhlten Beduͤrfniß macht, in welchem ſich die abſolute Noth¬<lb/> wendigkeit der in ſeinem innerſten Weſen gegruͤndeten Religio¬<lb/> ſitaͤt auf das Ueberzeugendſte beurkundet. Freilich kann eine<lb/> ſolche, wie ein <hi rendition="#aq">Deus ex machina</hi> hervortretende Froͤmmigkeit,<lb/> welche keine die wechſelnden Seelenzuſtaͤnde vermittelnde und<lb/> ausgleichende Entwickelung im bisherigen Leben fand, nicht von<lb/> einem folgerechten Denken zu wuͤrdigen Begriffen geſtaltet wor¬<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [94/0102]
ſie auch andere Menſchen beleidigt haben moͤge. Sie nahm
es ſich daher feſt vor, einen beſſeren Lebenswandel zu fuͤhren,
ſich von ihren bisherigen aberwitzigen Wuͤnſchen und Hoffnun¬
gen loszureißen, und um ſich in dieſem Vorſatze zu beſtaͤrken,
beſchloß ſie, jenes Bild zu kaufen und in ihrem Schlafzim¬
mer aufzuhaͤngen, um durch deſſen Betrachtung ihre Beſinnung
wieder zuruͤckzurufen. Jedoch dieſe letzte Regung ihrer gegen
den beginnenden Wahn ohnmaͤchtig ankaͤmpfenden Vernunft
wurde bald erſtickt; denn da die Kranke alle ihre Lebens¬
intereſſen in die Hoffnung auf den Beſitz des Verſtorbenen
zuſammengefaßt hatte, und da dieſe Hoffnung ihrer Natur
nach alle Grenzen der Wirklichkeit uͤberfliegen, dem Tode ſeine
Beute wieder abjagen, alſo die Moͤglichkeit ihrer Erfuͤllung
von einer unmittelbaren Gnadenwirkung Gottes abhaͤngig ma¬
chen mußte, ſo waren hiermit alle Elemente gegeben, aus
denen ſich der Wahn in ihrem Bewußtſein conſtruirte. Mit
anderen Worten, ohne fruͤher irgend eine Neigung zur reli¬
gioͤſen Schwaͤrmerei zu haben, mußte letztere doch gleichſam den
Einſchlag in den Aufzug des Gewebes ihrer irrſinnigen Faſe¬
leien geben, denn nur durch Gott konnte ſie zu ihrem Ge¬
liebten kommen; kein Wunder daher, daß die heiße Sehnſucht
nach dem letzteren in ihr eine monſtroͤſe Froͤmmigkeit erzeugte,
deren krankhafter Charakter alle Vorſtellungen von Gott zum
grellſten Unſinn verzerrte. Hiermit iſt wiederum nichts In¬
dividuelles, welches nur unſre Kranke betreffen koͤnnte, gege¬
ben, ſondern wir finden darin das allgemeine Geſetz zahlloſer
Thatſachen, welche darin uͤbereinſtimmen, daß der Menſch,
ſelbſt wenn er das religioͤſe Bewußtſein im fruͤheren Leben
unentwickelt gelaſſen, ja gefliſſentlich in ſich darnieder gehalten
hat, zu den ſtaͤrkſten Regungen deſſelben erwacht, wenn ein
ihn maͤchtig ergreifendes Schickſal ihn letztere zu einem tief ge¬
fuͤhlten Beduͤrfniß macht, in welchem ſich die abſolute Noth¬
wendigkeit der in ſeinem innerſten Weſen gegruͤndeten Religio¬
ſitaͤt auf das Ueberzeugendſte beurkundet. Freilich kann eine
ſolche, wie ein Deus ex machina hervortretende Froͤmmigkeit,
welche keine die wechſelnden Seelenzuſtaͤnde vermittelnde und
ausgleichende Entwickelung im bisherigen Leben fand, nicht von
einem folgerechten Denken zu wuͤrdigen Begriffen geſtaltet wor¬
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