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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.

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den war, auch nicht durch die Noth der bedrängten Leiden¬
schaft wie durch eine Inspiration oder Divination zu edlen und
reinern Formen ausgeprägt werden; sondern das plötzlich er¬
wachende maaßlose Gefühl des Unendlichen, welches mit un¬
gekannter Macht die Seele ergreift, reißt sie eben deshalb zu
wilden, stürmischen Aufwallungen fort, von denen der Verstand
dergestalt überwältigt wird, daß er darüber alle bisherigen rich¬
tigen Begriffe verliert, und von einer schwärmenden Phantasie
sich die Zügel entreißen lassen muß. Könnten wir in den
Seelen derer lesen, welche auf langer Irrfahrt in dem Laby¬
rinth der Leidenschaften das Göttliche ganz aus den Augen
verloren hatten, und endlich durch irgendwelche harte Schläge
des Schicksals, ja wohl erst auf dem Sterbelager aus ihrem
wüsten Taumel oder aus ihrer sophistischen Selbsttäuschung über
ihre verfehlte Bestimmung durch den strengen Ruf des inneren
Richters erwachten, gewiß wir würden oft die furchtbarsten
Zerrbilder des Ewigen erblicken, welches dem lange verblende¬
ten Thoren mit allen Schrecken angethan erscheinen muß, in
denen das bebende Gemüth aller Besinnung verlustig geht.
Hiermit soll nur im Allgemeinen der Mangel an richtigen re¬
ligiösen Begriffen bei einer improvisirten Frömmigkeit bezeich¬
net werden, weil die M., in liebender Hoffnung schwärmend,
und ihre Erfüllung von Gott erflehend, weit von bangem
Entsetzen entfernt war, vielmehr sich in das Trugbild eines
messianischen Berufs hineinphantasirt hatte, durch welchen sie
nur einer wunderbaren Gnadenwirkung Gottes würdig zu sein
wähnen konnte.

In diesem Sinne spann sie das Gewebe ihrer Wahn¬
vorstellungen weiter aus, und insbesondere war ihre Phantasie,
welche am Tage noch durch die Verrichtung häuslicher Geschäfte
einigermaaßen im Zaum gehalten wurde, in nächtlichen Träu¬
men überaus geschäftig, die glänzendsten Bilder zu dichten,
denen sie in ihrer Verstandesbethörung die Wahrheit der ob¬
jectiven Wirklichkeit beilegte. So sah sie in einem Traume
drei herrliche Gärten voll schöner Blumen und Bäume, und
eine unendlich große Wiese, auf welcher nur einige Schafe
weideten, das Ganze von einer am reinsten Himmel hellstrahlen¬
den Sonne beleuchtet. Menschen erblickte sie darauf nicht, außer

den war, auch nicht durch die Noth der bedraͤngten Leiden¬
ſchaft wie durch eine Inſpiration oder Divination zu edlen und
reinern Formen ausgepraͤgt werden; ſondern das ploͤtzlich er¬
wachende maaßloſe Gefuͤhl des Unendlichen, welches mit un¬
gekannter Macht die Seele ergreift, reißt ſie eben deshalb zu
wilden, ſtuͤrmiſchen Aufwallungen fort, von denen der Verſtand
dergeſtalt uͤberwaͤltigt wird, daß er daruͤber alle bisherigen rich¬
tigen Begriffe verliert, und von einer ſchwaͤrmenden Phantaſie
ſich die Zuͤgel entreißen laſſen muß. Koͤnnten wir in den
Seelen derer leſen, welche auf langer Irrfahrt in dem Laby¬
rinth der Leidenſchaften das Goͤttliche ganz aus den Augen
verloren hatten, und endlich durch irgendwelche harte Schlaͤge
des Schickſals, ja wohl erſt auf dem Sterbelager aus ihrem
wuͤſten Taumel oder aus ihrer ſophiſtiſchen Selbſttaͤuſchung uͤber
ihre verfehlte Beſtimmung durch den ſtrengen Ruf des inneren
Richters erwachten, gewiß wir wuͤrden oft die furchtbarſten
Zerrbilder des Ewigen erblicken, welches dem lange verblende¬
ten Thoren mit allen Schrecken angethan erſcheinen muß, in
denen das bebende Gemuͤth aller Beſinnung verluſtig geht.
Hiermit ſoll nur im Allgemeinen der Mangel an richtigen re¬
ligioͤſen Begriffen bei einer improviſirten Froͤmmigkeit bezeich¬
net werden, weil die M., in liebender Hoffnung ſchwaͤrmend,
und ihre Erfuͤllung von Gott erflehend, weit von bangem
Entſetzen entfernt war, vielmehr ſich in das Trugbild eines
meſſianiſchen Berufs hineinphantaſirt hatte, durch welchen ſie
nur einer wunderbaren Gnadenwirkung Gottes wuͤrdig zu ſein
waͤhnen konnte.

In dieſem Sinne ſpann ſie das Gewebe ihrer Wahn¬
vorſtellungen weiter aus, und insbeſondere war ihre Phantaſie,
welche am Tage noch durch die Verrichtung haͤuslicher Geſchaͤfte
einigermaaßen im Zaum gehalten wurde, in naͤchtlichen Traͤu¬
men uͤberaus geſchaͤftig, die glaͤnzendſten Bilder zu dichten,
denen ſie in ihrer Verſtandesbethoͤrung die Wahrheit der ob¬
jectiven Wirklichkeit beilegte. So ſah ſie in einem Traume
drei herrliche Gaͤrten voll ſchoͤner Blumen und Baͤume, und
eine unendlich große Wieſe, auf welcher nur einige Schafe
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[95/0103] den war, auch nicht durch die Noth der bedraͤngten Leiden¬ ſchaft wie durch eine Inſpiration oder Divination zu edlen und reinern Formen ausgepraͤgt werden; ſondern das ploͤtzlich er¬ wachende maaßloſe Gefuͤhl des Unendlichen, welches mit un¬ gekannter Macht die Seele ergreift, reißt ſie eben deshalb zu wilden, ſtuͤrmiſchen Aufwallungen fort, von denen der Verſtand dergeſtalt uͤberwaͤltigt wird, daß er daruͤber alle bisherigen rich¬ tigen Begriffe verliert, und von einer ſchwaͤrmenden Phantaſie ſich die Zuͤgel entreißen laſſen muß. Koͤnnten wir in den Seelen derer leſen, welche auf langer Irrfahrt in dem Laby¬ rinth der Leidenſchaften das Goͤttliche ganz aus den Augen verloren hatten, und endlich durch irgendwelche harte Schlaͤge des Schickſals, ja wohl erſt auf dem Sterbelager aus ihrem wuͤſten Taumel oder aus ihrer ſophiſtiſchen Selbſttaͤuſchung uͤber ihre verfehlte Beſtimmung durch den ſtrengen Ruf des inneren Richters erwachten, gewiß wir wuͤrden oft die furchtbarſten Zerrbilder des Ewigen erblicken, welches dem lange verblende¬ ten Thoren mit allen Schrecken angethan erſcheinen muß, in denen das bebende Gemuͤth aller Beſinnung verluſtig geht. Hiermit ſoll nur im Allgemeinen der Mangel an richtigen re¬ ligioͤſen Begriffen bei einer improviſirten Froͤmmigkeit bezeich¬ net werden, weil die M., in liebender Hoffnung ſchwaͤrmend, und ihre Erfuͤllung von Gott erflehend, weit von bangem Entſetzen entfernt war, vielmehr ſich in das Trugbild eines meſſianiſchen Berufs hineinphantaſirt hatte, durch welchen ſie nur einer wunderbaren Gnadenwirkung Gottes wuͤrdig zu ſein waͤhnen konnte. In dieſem Sinne ſpann ſie das Gewebe ihrer Wahn¬ vorſtellungen weiter aus, und insbeſondere war ihre Phantaſie, welche am Tage noch durch die Verrichtung haͤuslicher Geſchaͤfte einigermaaßen im Zaum gehalten wurde, in naͤchtlichen Traͤu¬ men uͤberaus geſchaͤftig, die glaͤnzendſten Bilder zu dichten, denen ſie in ihrer Verſtandesbethoͤrung die Wahrheit der ob¬ jectiven Wirklichkeit beilegte. So ſah ſie in einem Traume drei herrliche Gaͤrten voll ſchoͤner Blumen und Baͤume, und eine unendlich große Wieſe, auf welcher nur einige Schafe weideten, das Ganze von einer am reinſten Himmel hellſtrahlen¬ den Sonne beleuchtet. Menſchen erblickte ſie darauf nicht, außer

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Zitationshilfe: Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/103>, abgerufen am 24.11.2024.