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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.

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Ausgeburt einer tiefen Gemüthskrankheit, welche ihr inneres
Gefühl zu tief entzweite, als daß sie noch irgend einer Ruhe
theilhaftig werden konnte. Bei Tag und Nacht von Angst
gequält, klagte sie ihre Noth der andern Magd, wobei sie un¬
streitig schon genug Verkehrtheiten herausbrachte, weil letztere
ihr sagte, sie sei nicht klug. Inzwischen las sie oft in den
"Stunden der Andacht", und es war gewiß nicht die Schuld
dieses anerkannt vortrefflichen Werks, daß sie aus demselben
keine Aufklärung, sondern nur neue Nahrung für ihren Wahn¬
witz schöpfte.

In der Nacht zum 9. Sept. 1845, als sie mit mehreren
Weibern bei der Wäsche beschäftigt war, sah sie um Mitter¬
nacht mehrmals die Sonne über einem nahe gelegenen niedri¬
gen Hause aufgehen und wieder verschwinden, und dachte da¬
bei, der Herr läßt die Sonne aufgehen über die Guten und
Bösen, und läßt regnen über die Gerechten und Ungerechten.
Sie sprach diese Vision aus, und mußte von der andern Magd
den Vorwurf hören, daß sie mit ihrem Unsinn Andere angst
und bange mache, es solle der Herrschaft angezeigt werden.
Die M. erwiederte hierauf: "Sie haben mich oft geärgert und
zum Bösen verführen wollen, aber später müssen Sie mir
doch nachfolgen". Auf die Bemerkung jener: "Sie thun ja,
als wenn Sie in Gottes Allmacht ständen", entgegnete sie:
"das thue ich nicht, sondern ich spreche nur aus, was recht
und unrecht ist". Dabei war sie hoch erfreut, weil sie jene
Vision für die Ankündigung der nahen Ankunft des Verstor¬
benen hielt, schwieg jedoch darüber, weil die anderen Weiber
ihr wiederholt sagten, sie wüßten nicht, was sie von ihr den¬
ken sollten. In ihrer Ekstase darüber, daß nun die verheißene
Seeligkeit beginnen werde, glaubte sie wahrzunehmen, daß die
übrigen Weiber vor Rührung weinten, worin sie eine Bestä¬
tigung ihres Wahns zu finden glaubte. Bald gerieth sie so
außer sich, daß sie die Arbeit nicht fortsetzen konnte, und da
sie dessenungeachtet zu derselben angetrieben wurde, so brach sie
in Schreien und Weinen aus, indem sie von einem solchen
Fieberfrost ergriffen wurde, daß ihr die Zähne klapperten. Zu¬
gleich rief sie, daß sie nach den Eisbergen von Tyrol abreisen
müsse, der Verstorbene habe jährlich (in den Ferien) so große

Ideler über d. rel. Wahnsinn. 7

Ausgeburt einer tiefen Gemuͤthskrankheit, welche ihr inneres
Gefuͤhl zu tief entzweite, als daß ſie noch irgend einer Ruhe
theilhaftig werden konnte. Bei Tag und Nacht von Angſt
gequaͤlt, klagte ſie ihre Noth der andern Magd, wobei ſie un¬
ſtreitig ſchon genug Verkehrtheiten herausbrachte, weil letztere
ihr ſagte, ſie ſei nicht klug. Inzwiſchen las ſie oft in den
„Stunden der Andacht”, und es war gewiß nicht die Schuld
dieſes anerkannt vortrefflichen Werks, daß ſie aus demſelben
keine Aufklaͤrung, ſondern nur neue Nahrung fuͤr ihren Wahn¬
witz ſchoͤpfte.

In der Nacht zum 9. Sept. 1845, als ſie mit mehreren
Weibern bei der Waͤſche beſchaͤftigt war, ſah ſie um Mitter¬
nacht mehrmals die Sonne uͤber einem nahe gelegenen niedri¬
gen Hauſe aufgehen und wieder verſchwinden, und dachte da¬
bei, der Herr laͤßt die Sonne aufgehen uͤber die Guten und
Boͤſen, und laͤßt regnen uͤber die Gerechten und Ungerechten.
Sie ſprach dieſe Viſion aus, und mußte von der andern Magd
den Vorwurf hoͤren, daß ſie mit ihrem Unſinn Andere angſt
und bange mache, es ſolle der Herrſchaft angezeigt werden.
Die M. erwiederte hierauf: „Sie haben mich oft geaͤrgert und
zum Boͤſen verfuͤhren wollen, aber ſpaͤter muͤſſen Sie mir
doch nachfolgen”. Auf die Bemerkung jener: „Sie thun ja,
als wenn Sie in Gottes Allmacht ſtaͤnden”, entgegnete ſie:
„das thue ich nicht, ſondern ich ſpreche nur aus, was recht
und unrecht iſt”. Dabei war ſie hoch erfreut, weil ſie jene
Viſion fuͤr die Ankuͤndigung der nahen Ankunft des Verſtor¬
benen hielt, ſchwieg jedoch daruͤber, weil die anderen Weiber
ihr wiederholt ſagten, ſie wuͤßten nicht, was ſie von ihr den¬
ken ſollten. In ihrer Ekſtaſe daruͤber, daß nun die verheißene
Seeligkeit beginnen werde, glaubte ſie wahrzunehmen, daß die
uͤbrigen Weiber vor Ruͤhrung weinten, worin ſie eine Beſtaͤ¬
tigung ihres Wahns zu finden glaubte. Bald gerieth ſie ſo
außer ſich, daß ſie die Arbeit nicht fortſetzen konnte, und da
ſie deſſenungeachtet zu derſelben angetrieben wurde, ſo brach ſie
in Schreien und Weinen aus, indem ſie von einem ſolchen
Fieberfroſt ergriffen wurde, daß ihr die Zaͤhne klapperten. Zu¬
gleich rief ſie, daß ſie nach den Eisbergen von Tyrol abreiſen
muͤſſe, der Verſtorbene habe jaͤhrlich (in den Ferien) ſo große

Ideler uͤber d. rel. Wahnſinn. 7
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[97/0105] Ausgeburt einer tiefen Gemuͤthskrankheit, welche ihr inneres Gefuͤhl zu tief entzweite, als daß ſie noch irgend einer Ruhe theilhaftig werden konnte. Bei Tag und Nacht von Angſt gequaͤlt, klagte ſie ihre Noth der andern Magd, wobei ſie un¬ ſtreitig ſchon genug Verkehrtheiten herausbrachte, weil letztere ihr ſagte, ſie ſei nicht klug. Inzwiſchen las ſie oft in den „Stunden der Andacht”, und es war gewiß nicht die Schuld dieſes anerkannt vortrefflichen Werks, daß ſie aus demſelben keine Aufklaͤrung, ſondern nur neue Nahrung fuͤr ihren Wahn¬ witz ſchoͤpfte. In der Nacht zum 9. Sept. 1845, als ſie mit mehreren Weibern bei der Waͤſche beſchaͤftigt war, ſah ſie um Mitter¬ nacht mehrmals die Sonne uͤber einem nahe gelegenen niedri¬ gen Hauſe aufgehen und wieder verſchwinden, und dachte da¬ bei, der Herr laͤßt die Sonne aufgehen uͤber die Guten und Boͤſen, und laͤßt regnen uͤber die Gerechten und Ungerechten. Sie ſprach dieſe Viſion aus, und mußte von der andern Magd den Vorwurf hoͤren, daß ſie mit ihrem Unſinn Andere angſt und bange mache, es ſolle der Herrſchaft angezeigt werden. Die M. erwiederte hierauf: „Sie haben mich oft geaͤrgert und zum Boͤſen verfuͤhren wollen, aber ſpaͤter muͤſſen Sie mir doch nachfolgen”. Auf die Bemerkung jener: „Sie thun ja, als wenn Sie in Gottes Allmacht ſtaͤnden”, entgegnete ſie: „das thue ich nicht, ſondern ich ſpreche nur aus, was recht und unrecht iſt”. Dabei war ſie hoch erfreut, weil ſie jene Viſion fuͤr die Ankuͤndigung der nahen Ankunft des Verſtor¬ benen hielt, ſchwieg jedoch daruͤber, weil die anderen Weiber ihr wiederholt ſagten, ſie wuͤßten nicht, was ſie von ihr den¬ ken ſollten. In ihrer Ekſtaſe daruͤber, daß nun die verheißene Seeligkeit beginnen werde, glaubte ſie wahrzunehmen, daß die uͤbrigen Weiber vor Ruͤhrung weinten, worin ſie eine Beſtaͤ¬ tigung ihres Wahns zu finden glaubte. Bald gerieth ſie ſo außer ſich, daß ſie die Arbeit nicht fortſetzen konnte, und da ſie deſſenungeachtet zu derſelben angetrieben wurde, ſo brach ſie in Schreien und Weinen aus, indem ſie von einem ſolchen Fieberfroſt ergriffen wurde, daß ihr die Zaͤhne klapperten. Zu¬ gleich rief ſie, daß ſie nach den Eisbergen von Tyrol abreiſen muͤſſe, der Verſtorbene habe jaͤhrlich (in den Ferien) ſo große Ideler uͤber d. rel. Wahnſinn. 7

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Zitationshilfe: Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/105>, abgerufen am 24.11.2024.