Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.Reisen unternommen, um die Menschen zu bekehren, jetzt müsse Ueberblickt man die bisher gegebene pathogenetische Dar¬ Reiſen unternommen, um die Menſchen zu bekehren, jetzt muͤſſe Ueberblickt man die bisher gegebene pathogenetiſche Dar¬ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0106" n="98"/> Reiſen unternommen, um die Menſchen zu bekehren, jetzt muͤſſe<lb/> ſie ihm nachfolgen.</p><lb/> <p>Ueberblickt man die bisher gegebene pathogenetiſche Dar¬<lb/> ſtellung, ſo kann man ſich einer Ruͤhrung daruͤber nicht er¬<lb/> wehren, daß in allen Menſchenſeelen die Keime des Schoͤnſten<lb/> und Edelſten liegen, aber wegen aͤußerer Hinderniſſe nicht zur<lb/> Entwickelung kommen, und deshalb, wenn erſchuͤtternde Er¬<lb/> eigniſſe den Wahn erzeugt, und durch ihn die innerſten Tiefen<lb/> des Gemuͤths aufgewuͤhlt haben, in ihrer erzwungenen Anregung<lb/> nur verkuͤmmern koͤnnen. Eine Magd, in den untergeordnet¬<lb/> ſten Verhaͤltniſſen lebend, von mannigfacher Noth und Truͤbſal<lb/> bedraͤngt, von welcher ſie aus Mangel an kraͤftiger Selbſtbe¬<lb/> ſtimmung ſich nicht befreien, und deshalb uͤber die materiellſten<lb/> Verhaͤltniſſe nicht zu einem freieren Selbſtbewußtſein ſich er¬<lb/> heben kann, wird von einer Liebe ergriffen, welche ſchon von<lb/> vorn herein die Moͤglichkeit jeder Erfuͤllung ihrer Sehnſucht<lb/> ausſchließt, und deshalb ſogleich einen idealen Charakter an¬<lb/> nehmen muß. Ein tragiſches Geſchick, welches jede fernere<lb/> Taͤuſchung haͤtte zerſtoͤren muͤſſen, bringt dieſe Wirkung nicht<lb/> hervor, da die Liebe dem Gemuͤth ſo nothwendig geworden<lb/> war, daß ſie den Wahnſinn nicht ſcheute, und unter anderen<lb/> Verhaͤltniſſen wahrſcheinlich dem Tode nicht ausgewichen ſein<lb/> wuͤrde, um ſich ſelbſt fuͤr dieſen Preis im Bewußtſein zu be¬<lb/> haupten. Im Innerſten ergriffen und raſtlos bewegt, erhebt<lb/> die Kranke ſich durch eine maͤchtige Steigerung ihrer Seelen¬<lb/> kraͤfte zu allgemeinen Weltanſchauungen und zur Vorſtellung<lb/> der hoͤchſten Lebensintereſſen, von denen ſie fruͤher ſchwerlich die<lb/> leiſeſte Ahnung hatte; ſie fuͤhlt die Verderbniß der Welt nicht<lb/> allein in dem beſchraͤnkten Sinne, daß ſie darunter zu leiden<lb/> habe, ſondern in der Erkenntniß, daß derſelben Einhalt gethan<lb/> werden muͤſſe, und mit liebetrunkener Phantaſie ſchwaͤrmend,<lb/> entwickelt ſie ein poetiſches Talent, welches in einer Fuͤlle dich¬<lb/> teriſcher Bilder ſchwelgend die Erloͤſung des Menſchengeſchlechts<lb/> durch die an ihr und an ihrem Geliebten offenbarte Gnaden¬<lb/> wirkung Gottes zu einer uͤberſchwenglichen Seeligkeit verheißt.<lb/> Daß alles dies in wahnſinniger Verzerrung unter den Zuckun¬<lb/> gen einer maaßloſen Leidenſchaft zum Vorſchein kam, und da¬<lb/> durch jeder tieferen Bedeutung verluſtig ging, beweiſet nur ſo<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [98/0106]
Reiſen unternommen, um die Menſchen zu bekehren, jetzt muͤſſe
ſie ihm nachfolgen.
Ueberblickt man die bisher gegebene pathogenetiſche Dar¬
ſtellung, ſo kann man ſich einer Ruͤhrung daruͤber nicht er¬
wehren, daß in allen Menſchenſeelen die Keime des Schoͤnſten
und Edelſten liegen, aber wegen aͤußerer Hinderniſſe nicht zur
Entwickelung kommen, und deshalb, wenn erſchuͤtternde Er¬
eigniſſe den Wahn erzeugt, und durch ihn die innerſten Tiefen
des Gemuͤths aufgewuͤhlt haben, in ihrer erzwungenen Anregung
nur verkuͤmmern koͤnnen. Eine Magd, in den untergeordnet¬
ſten Verhaͤltniſſen lebend, von mannigfacher Noth und Truͤbſal
bedraͤngt, von welcher ſie aus Mangel an kraͤftiger Selbſtbe¬
ſtimmung ſich nicht befreien, und deshalb uͤber die materiellſten
Verhaͤltniſſe nicht zu einem freieren Selbſtbewußtſein ſich er¬
heben kann, wird von einer Liebe ergriffen, welche ſchon von
vorn herein die Moͤglichkeit jeder Erfuͤllung ihrer Sehnſucht
ausſchließt, und deshalb ſogleich einen idealen Charakter an¬
nehmen muß. Ein tragiſches Geſchick, welches jede fernere
Taͤuſchung haͤtte zerſtoͤren muͤſſen, bringt dieſe Wirkung nicht
hervor, da die Liebe dem Gemuͤth ſo nothwendig geworden
war, daß ſie den Wahnſinn nicht ſcheute, und unter anderen
Verhaͤltniſſen wahrſcheinlich dem Tode nicht ausgewichen ſein
wuͤrde, um ſich ſelbſt fuͤr dieſen Preis im Bewußtſein zu be¬
haupten. Im Innerſten ergriffen und raſtlos bewegt, erhebt
die Kranke ſich durch eine maͤchtige Steigerung ihrer Seelen¬
kraͤfte zu allgemeinen Weltanſchauungen und zur Vorſtellung
der hoͤchſten Lebensintereſſen, von denen ſie fruͤher ſchwerlich die
leiſeſte Ahnung hatte; ſie fuͤhlt die Verderbniß der Welt nicht
allein in dem beſchraͤnkten Sinne, daß ſie darunter zu leiden
habe, ſondern in der Erkenntniß, daß derſelben Einhalt gethan
werden muͤſſe, und mit liebetrunkener Phantaſie ſchwaͤrmend,
entwickelt ſie ein poetiſches Talent, welches in einer Fuͤlle dich¬
teriſcher Bilder ſchwelgend die Erloͤſung des Menſchengeſchlechts
durch die an ihr und an ihrem Geliebten offenbarte Gnaden¬
wirkung Gottes zu einer uͤberſchwenglichen Seeligkeit verheißt.
Daß alles dies in wahnſinniger Verzerrung unter den Zuckun¬
gen einer maaßloſen Leidenſchaft zum Vorſchein kam, und da¬
durch jeder tieferen Bedeutung verluſtig ging, beweiſet nur ſo
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