die Nächte verpraßte, so viel, um nur die nothwendigsten Bedürfnisse zu befriedigen, und wie sehr sie sich auch anstrengte, durch weibliche Arbeiten bis tief in die Nächte hinein, einen Nothpfennig anzuschaffen, so konnte sie doch nicht ihren und der Kinder Hunger stillen. Nur selten wagte sie es, die Kirche zu besuchen, da ihre Kleider gewöhnlich so zerlumpt waren, daß sie sich nicht öffentlich sehen lassen konnte. Nicht einmal den Trost des Gebetes gönnte ihr der Scheußliche, denn er schlug sie jedesmal, wenn er sie bei demselben an¬ traf, unstreitig weil er darin eine stille Anklage seiner Ver¬ worfenheit fand. Sie ist auch überzeugt, daß er mit lüder¬ lichen Weibern, mit denen er gemeinschaftlich in einem Ma¬ gazin arbeitete, einen verbotenen Umgang gepflogen, und daß er ihnen Geld zugesteckt habe, während sie selbst mit den Kindern darben mußte.
Zwanzig Jahre dauerte dies infernalische Verhältniß, bis der Ruchlose in Folge seiner unaufhörlichen Ausschweifungen eines elenden Todes in der Charite starb. Wer zählt die Thränen und Seufzer, welche er ihr während dieser langen Marterzeit auspreßte, wer mißt die Summe der bittersten Noth, welche sie erdulden mußte! Denn zu allem geschilderten Elende gesellte sich noch das Ungemach von 10 Wochenbetten, in de¬ nen sie mit Entbehrungen der schlimmsten Art zu kämpfen hatte, daher denn auch die meisten Kinder aus Mangel an hinreichender Ernährung und Pflege frühzeitig starben, und nur drei am Leben blieben. Die meisten Entbindungen gin¬ gen doch noch glücklich genug von Statten; nur nach einer Frühgeburt in Folge eines Schlages auf den Unterleib litt sie 18 Wochen lang an einem starken Mutterblutfluß, durch wel¬ chen sie auf das Aeußerste entkräftet wurde. Hülflos schmach¬ tete sie mit zwei kleinen Kindern, denen sie oft keinen Bissen Brodt reichen konnte, wobei ihr das Herz blutete. Ihr Lei¬ den wurde noch durch ein schlimmes Geschwür, wahrscheinlich in einer Kieferhöhle erschwert, welches durch eine Zahnlücke aufbrach, und eine Menge von Eiter ergoß. Ehe es so weit kam, hatte sie an betäubenden Kopfschmerzen gelitten, sie konnte Tage lang nicht sprechen, sich nur durch Zeichen verständlich machen, fühlte aber nach der Befreiung von dieser Plage eine
die Naͤchte verpraßte, ſo viel, um nur die nothwendigſten Beduͤrfniſſe zu befriedigen, und wie ſehr ſie ſich auch anſtrengte, durch weibliche Arbeiten bis tief in die Naͤchte hinein, einen Nothpfennig anzuſchaffen, ſo konnte ſie doch nicht ihren und der Kinder Hunger ſtillen. Nur ſelten wagte ſie es, die Kirche zu beſuchen, da ihre Kleider gewoͤhnlich ſo zerlumpt waren, daß ſie ſich nicht oͤffentlich ſehen laſſen konnte. Nicht einmal den Troſt des Gebetes goͤnnte ihr der Scheußliche, denn er ſchlug ſie jedesmal, wenn er ſie bei demſelben an¬ traf, unſtreitig weil er darin eine ſtille Anklage ſeiner Ver¬ worfenheit fand. Sie iſt auch uͤberzeugt, daß er mit luͤder¬ lichen Weibern, mit denen er gemeinſchaftlich in einem Ma¬ gazin arbeitete, einen verbotenen Umgang gepflogen, und daß er ihnen Geld zugeſteckt habe, waͤhrend ſie ſelbſt mit den Kindern darben mußte.
Zwanzig Jahre dauerte dies infernaliſche Verhaͤltniß, bis der Ruchloſe in Folge ſeiner unaufhoͤrlichen Ausſchweifungen eines elenden Todes in der Charité ſtarb. Wer zaͤhlt die Thraͤnen und Seufzer, welche er ihr waͤhrend dieſer langen Marterzeit auspreßte, wer mißt die Summe der bitterſten Noth, welche ſie erdulden mußte! Denn zu allem geſchilderten Elende geſellte ſich noch das Ungemach von 10 Wochenbetten, in de¬ nen ſie mit Entbehrungen der ſchlimmſten Art zu kaͤmpfen hatte, daher denn auch die meiſten Kinder aus Mangel an hinreichender Ernaͤhrung und Pflege fruͤhzeitig ſtarben, und nur drei am Leben blieben. Die meiſten Entbindungen gin¬ gen doch noch gluͤcklich genug von Statten; nur nach einer Fruͤhgeburt in Folge eines Schlages auf den Unterleib litt ſie 18 Wochen lang an einem ſtarken Mutterblutfluß, durch wel¬ chen ſie auf das Aeußerſte entkraͤftet wurde. Huͤlflos ſchmach¬ tete ſie mit zwei kleinen Kindern, denen ſie oft keinen Biſſen Brodt reichen konnte, wobei ihr das Herz blutete. Ihr Lei¬ den wurde noch durch ein ſchlimmes Geſchwuͤr, wahrſcheinlich in einer Kieferhoͤhle erſchwert, welches durch eine Zahnluͤcke aufbrach, und eine Menge von Eiter ergoß. Ehe es ſo weit kam, hatte ſie an betaͤubenden Kopfſchmerzen gelitten, ſie konnte Tage lang nicht ſprechen, ſich nur durch Zeichen verſtaͤndlich machen, fuͤhlte aber nach der Befreiung von dieſer Plage eine
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die Naͤchte verpraßte, ſo viel, um nur die nothwendigſten
Beduͤrfniſſe zu befriedigen, und wie ſehr ſie ſich auch anſtrengte,
durch weibliche Arbeiten bis tief in die Naͤchte hinein, einen
Nothpfennig anzuſchaffen, ſo konnte ſie doch nicht ihren und
der Kinder Hunger ſtillen. Nur ſelten wagte ſie es, die
Kirche zu beſuchen, da ihre Kleider gewoͤhnlich ſo zerlumpt
waren, daß ſie ſich nicht oͤffentlich ſehen laſſen konnte. Nicht
einmal den Troſt des Gebetes goͤnnte ihr der Scheußliche,
denn er ſchlug ſie jedesmal, wenn er ſie bei demſelben an¬
traf, unſtreitig weil er darin eine ſtille Anklage ſeiner Ver¬
worfenheit fand. Sie iſt auch uͤberzeugt, daß er mit luͤder¬
lichen Weibern, mit denen er gemeinſchaftlich in einem Ma¬
gazin arbeitete, einen verbotenen Umgang gepflogen, und daß
er ihnen Geld zugeſteckt habe, waͤhrend ſie ſelbſt mit den
Kindern darben mußte.
Zwanzig Jahre dauerte dies infernaliſche Verhaͤltniß, bis
der Ruchloſe in Folge ſeiner unaufhoͤrlichen Ausſchweifungen
eines elenden Todes in der Charité ſtarb. Wer zaͤhlt die
Thraͤnen und Seufzer, welche er ihr waͤhrend dieſer langen
Marterzeit auspreßte, wer mißt die Summe der bitterſten Noth,
welche ſie erdulden mußte! Denn zu allem geſchilderten Elende
geſellte ſich noch das Ungemach von 10 Wochenbetten, in de¬
nen ſie mit Entbehrungen der ſchlimmſten Art zu kaͤmpfen
hatte, daher denn auch die meiſten Kinder aus Mangel an
hinreichender Ernaͤhrung und Pflege fruͤhzeitig ſtarben, und
nur drei am Leben blieben. Die meiſten Entbindungen gin¬
gen doch noch gluͤcklich genug von Statten; nur nach einer
Fruͤhgeburt in Folge eines Schlages auf den Unterleib litt ſie
18 Wochen lang an einem ſtarken Mutterblutfluß, durch wel¬
chen ſie auf das Aeußerſte entkraͤftet wurde. Huͤlflos ſchmach¬
tete ſie mit zwei kleinen Kindern, denen ſie oft keinen Biſſen
Brodt reichen konnte, wobei ihr das Herz blutete. Ihr Lei¬
den wurde noch durch ein ſchlimmes Geſchwuͤr, wahrſcheinlich
in einer Kieferhoͤhle erſchwert, welches durch eine Zahnluͤcke
aufbrach, und eine Menge von Eiter ergoß. Ehe es ſo weit
kam, hatte ſie an betaͤubenden Kopfſchmerzen gelitten, ſie konnte
Tage lang nicht ſprechen, ſich nur durch Zeichen verſtaͤndlich
machen, fuͤhlte aber nach der Befreiung von dieſer Plage eine
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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/118>, abgerufen am 16.02.2025.
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