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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.

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natürlicher Gestalt zu ihr trat, und ohne zu sprechen nach
einigen Minuten wieder verschwand. Die F., welche ein sehn¬
süchtiges Verlangen nach ihrer liebevollen Mutter hegte, be¬
trachtete gleichfalls schweigend ihre Gestalt, und empfand eine
große Freude bei der Vorstellung, daß dieselbe aus dem Him¬
mel zu ihr herabgestiegen sei, um ihr Trost zu bringen. Wäh¬
rend eines Wochenbettes vernahm sie in sich die Stimme von
Christus, welcher sie fragte, wer hat dich erlöset? und darauf
hinzusetzte: "Der süße Heiland." Sie flehte ihn an, er
möge ihr die Kraft schenken, im Gebete die Kniee zu beu¬
gen vor seiner Gnadenhand. Da sie am 3. Tage nachher
schon von schwerem Krankenlager aufstehen konnte, so sah sie
hierin die gnädige Erhörung ihres Gebets.

Bald nach dem Tode ihres Mannes kam aber ihr
Wahnsinn deutlicher zur Erscheinung. Ein Uhrmacher mußte
nämlich als Armenvorsteher ihr wöchentlich 6 Groschen einhän¬
digen, und da sie auch häufig in seinem Hause arbeitete, und
dafür einiges Geld empfing, so entstand sehr bald eine mystische
Neigung gegen ihn in ihr, welche sofort eine seltsame Gestalt
annahm. Anfangs mochte sie ihn für ihren Wohlthäter gehal¬
ten haben, ohne an seinen amtlichen Charakter zu denken,
dem sie seine Gaben verdankte. Das Gefühl der Erkenntlich¬
keit gegen einen Mann, welcher, vielleicht der erste, ihr ein
thätiges Wohlwollen bezeigte, ging aber bald in wirkliche Zu¬
neigung über, welche gewiß nicht die geringste erotische Be¬
deutung bei einer schon bejahrten Frau hatte, der die Ehe
nur in der abschreckendsten Gestalt erschienen war. Aber trotz
aller erduldeten Kränkung hatte sie in sich die Vorstellung le¬
bendig erhalten, daß die Menschen sich gegenseitig als Brüder
und Schwestern lieben sollten, und in diesem Sinne glaubte
sie von Gott die Weisung erhalten zu haben, jenen Uhrma¬
cher von Herzen zu lieben, und sich an ihn als ihren Ehe¬
mann innig zu ketten, da auch ihm geboten worden sei, sie
zu heirathen, und für ihren Haushalt, so wie für ihre Kin¬
der zu sorgen. Nicht nur machte sie gegen ihn von dieser
Forderung kein Geheimniß, sondern sie verlangte auch von ihm,
so wie von ihrer Schwester, daß beide ihr behülflich sein soll¬
ten, ein Erbtheil von ihrer Mutter, welches nach ihrer Mei¬

Ideler über d. rel. Wahnsinn. 8

natuͤrlicher Geſtalt zu ihr trat, und ohne zu ſprechen nach
einigen Minuten wieder verſchwand. Die F., welche ein ſehn¬
ſuͤchtiges Verlangen nach ihrer liebevollen Mutter hegte, be¬
trachtete gleichfalls ſchweigend ihre Geſtalt, und empfand eine
große Freude bei der Vorſtellung, daß dieſelbe aus dem Him¬
mel zu ihr herabgeſtiegen ſei, um ihr Troſt zu bringen. Waͤh¬
rend eines Wochenbettes vernahm ſie in ſich die Stimme von
Chriſtus, welcher ſie fragte, wer hat dich erloͤſet? und darauf
hinzuſetzte: „Der ſuͤße Heiland.” Sie flehte ihn an, er
moͤge ihr die Kraft ſchenken, im Gebete die Kniee zu beu¬
gen vor ſeiner Gnadenhand. Da ſie am 3. Tage nachher
ſchon von ſchwerem Krankenlager aufſtehen konnte, ſo ſah ſie
hierin die gnaͤdige Erhoͤrung ihres Gebets.

Bald nach dem Tode ihres Mannes kam aber ihr
Wahnſinn deutlicher zur Erſcheinung. Ein Uhrmacher mußte
naͤmlich als Armenvorſteher ihr woͤchentlich 6 Groſchen einhaͤn¬
digen, und da ſie auch haͤufig in ſeinem Hauſe arbeitete, und
dafuͤr einiges Geld empfing, ſo entſtand ſehr bald eine myſtiſche
Neigung gegen ihn in ihr, welche ſofort eine ſeltſame Geſtalt
annahm. Anfangs mochte ſie ihn fuͤr ihren Wohlthaͤter gehal¬
ten haben, ohne an ſeinen amtlichen Charakter zu denken,
dem ſie ſeine Gaben verdankte. Das Gefuͤhl der Erkenntlich¬
keit gegen einen Mann, welcher, vielleicht der erſte, ihr ein
thaͤtiges Wohlwollen bezeigte, ging aber bald in wirkliche Zu¬
neigung uͤber, welche gewiß nicht die geringſte erotiſche Be¬
deutung bei einer ſchon bejahrten Frau hatte, der die Ehe
nur in der abſchreckendſten Geſtalt erſchienen war. Aber trotz
aller erduldeten Kraͤnkung hatte ſie in ſich die Vorſtellung le¬
bendig erhalten, daß die Menſchen ſich gegenſeitig als Bruͤder
und Schweſtern lieben ſollten, und in dieſem Sinne glaubte
ſie von Gott die Weiſung erhalten zu haben, jenen Uhrma¬
cher von Herzen zu lieben, und ſich an ihn als ihren Ehe¬
mann innig zu ketten, da auch ihm geboten worden ſei, ſie
zu heirathen, und fuͤr ihren Haushalt, ſo wie fuͤr ihre Kin¬
der zu ſorgen. Nicht nur machte ſie gegen ihn von dieſer
Forderung kein Geheimniß, ſondern ſie verlangte auch von ihm,
ſo wie von ihrer Schweſter, daß beide ihr behuͤlflich ſein ſoll¬
ten, ein Erbtheil von ihrer Mutter, welches nach ihrer Mei¬

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[113/0121] natuͤrlicher Geſtalt zu ihr trat, und ohne zu ſprechen nach einigen Minuten wieder verſchwand. Die F., welche ein ſehn¬ ſuͤchtiges Verlangen nach ihrer liebevollen Mutter hegte, be¬ trachtete gleichfalls ſchweigend ihre Geſtalt, und empfand eine große Freude bei der Vorſtellung, daß dieſelbe aus dem Him¬ mel zu ihr herabgeſtiegen ſei, um ihr Troſt zu bringen. Waͤh¬ rend eines Wochenbettes vernahm ſie in ſich die Stimme von Chriſtus, welcher ſie fragte, wer hat dich erloͤſet? und darauf hinzuſetzte: „Der ſuͤße Heiland.” Sie flehte ihn an, er moͤge ihr die Kraft ſchenken, im Gebete die Kniee zu beu¬ gen vor ſeiner Gnadenhand. Da ſie am 3. Tage nachher ſchon von ſchwerem Krankenlager aufſtehen konnte, ſo ſah ſie hierin die gnaͤdige Erhoͤrung ihres Gebets. Bald nach dem Tode ihres Mannes kam aber ihr Wahnſinn deutlicher zur Erſcheinung. Ein Uhrmacher mußte naͤmlich als Armenvorſteher ihr woͤchentlich 6 Groſchen einhaͤn¬ digen, und da ſie auch haͤufig in ſeinem Hauſe arbeitete, und dafuͤr einiges Geld empfing, ſo entſtand ſehr bald eine myſtiſche Neigung gegen ihn in ihr, welche ſofort eine ſeltſame Geſtalt annahm. Anfangs mochte ſie ihn fuͤr ihren Wohlthaͤter gehal¬ ten haben, ohne an ſeinen amtlichen Charakter zu denken, dem ſie ſeine Gaben verdankte. Das Gefuͤhl der Erkenntlich¬ keit gegen einen Mann, welcher, vielleicht der erſte, ihr ein thaͤtiges Wohlwollen bezeigte, ging aber bald in wirkliche Zu¬ neigung uͤber, welche gewiß nicht die geringſte erotiſche Be¬ deutung bei einer ſchon bejahrten Frau hatte, der die Ehe nur in der abſchreckendſten Geſtalt erſchienen war. Aber trotz aller erduldeten Kraͤnkung hatte ſie in ſich die Vorſtellung le¬ bendig erhalten, daß die Menſchen ſich gegenſeitig als Bruͤder und Schweſtern lieben ſollten, und in dieſem Sinne glaubte ſie von Gott die Weiſung erhalten zu haben, jenen Uhrma¬ cher von Herzen zu lieben, und ſich an ihn als ihren Ehe¬ mann innig zu ketten, da auch ihm geboten worden ſei, ſie zu heirathen, und fuͤr ihren Haushalt, ſo wie fuͤr ihre Kin¬ der zu ſorgen. Nicht nur machte ſie gegen ihn von dieſer Forderung kein Geheimniß, ſondern ſie verlangte auch von ihm, ſo wie von ihrer Schweſter, daß beide ihr behuͤlflich ſein ſoll¬ ten, ein Erbtheil von ihrer Mutter, welches nach ihrer Mei¬ Ideler uͤber d. rel. Wahnſinn. 8

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Zitationshilfe: Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/121>, abgerufen am 29.05.2024.