Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.

Bild:
<< vorherige Seite

der Bedingungen, welche die Entstehung einer selbstständigen
Seelenstörung aus einem übrigens glücklich abgelaufenen Fie¬
ber veranlassen, ist im Allgemeinen sehr schwierig, und Alles,
was sich darüber im vorliegenden Falle ohne gewagte Voraus¬
setzungen sagen läßt, dürfte sich darauf beschränken, daß unter
den Verhältnissen des Wochenbettes, welche so oft die Entste¬
hung einer Geisteskrankheit begünstigen, die außerordentliche
Lebhaftigkeit der Fieberdelirien eine tiefe Erschütterung des Ge¬
müths bewirkte, welche eine Exaltation des in ihm stark her¬
vortretenden religiösen Gefühls veranlaßte, dessen Erregung
vorzugsweise durch die himmlischen Bilder, und durch die To¬
desgedanken in den Stunden der wiederkehrenden Besinnung
gesteigert und dauernd erhalten wurde. Ihre von jeher sehr
geschäftige und bilderreiche Phantasie setzte daher das mit un¬
gestümer Lebhaftigkeit begonnene und durch heftige Gefühle be¬
schleunigte Spiel zur Bethörung des Geistes fort, nachdem das
Fieber schon zu seinem vollen Ablauf gelangt war. Wie see¬
lig sie sich aber auch in den Augenblicken der himmlischen Vi¬
sionen gefühlt hatte, so war doch ihr geistig körperlicher Zu¬
stand in eine so heftige Erschütterung versetzt worden, als daß
sie sich derselben nicht durch peinliche Gefühle hätte bewußt
werden sollen, welche die Phantasie als treues Echo aller An¬
klänge des Gemüths in analogen Bildern symbolisirte. Sie
glaubte dann, der Teufel verfolge sie, und wenn sie ihn auch
damals noch nicht leibhaftig sah, so kam es ihr doch vor, als
ob er hinter ihrem Rücken huste, und sie ergreifen wolle, um
sie gewaltsam von den Ihrigen loszureißen und auf immer zu
trennen. Aus dieser Vorstellung ging eine andere hervor,
welche sich auf lange Zeit in ihrem Bewußtsein als der eigent¬
liche Ausgangspunkt ihres Wahnsinns fixirte. Sie glaubte
nämlich eine schwere Sünderin zu sein, der Gott ihr Kind
zur Strafe nehmen wolle, indem dasselbe seinem Zorn zur
Sühne für das ganze Menschengeschlecht gebracht werden solle.
Von dem heftigsten Entsetzen wurde sie in ihrem Muttergefühl
getroffen, als sie in ihrem Innern die Offenbarung zu ver¬
nehmen wähnte, daß sie selbst dies Opfer vollziehen müsse,
daher sie dann wiederholt in rasender Angst aus dem Bette
sprang, um das Kind zu ergreifen und sich mit ihm ins Was¬

der Bedingungen, welche die Entſtehung einer ſelbſtſtaͤndigen
Seelenſtoͤrung aus einem uͤbrigens gluͤcklich abgelaufenen Fie¬
ber veranlaſſen, iſt im Allgemeinen ſehr ſchwierig, und Alles,
was ſich daruͤber im vorliegenden Falle ohne gewagte Voraus¬
ſetzungen ſagen laͤßt, duͤrfte ſich darauf beſchraͤnken, daß unter
den Verhaͤltniſſen des Wochenbettes, welche ſo oft die Entſte¬
hung einer Geiſteskrankheit beguͤnſtigen, die außerordentliche
Lebhaftigkeit der Fieberdelirien eine tiefe Erſchuͤtterung des Ge¬
muͤths bewirkte, welche eine Exaltation des in ihm ſtark her¬
vortretenden religioͤſen Gefuͤhls veranlaßte, deſſen Erregung
vorzugsweiſe durch die himmliſchen Bilder, und durch die To¬
desgedanken in den Stunden der wiederkehrenden Beſinnung
geſteigert und dauernd erhalten wurde. Ihre von jeher ſehr
geſchaͤftige und bilderreiche Phantaſie ſetzte daher das mit un¬
geſtuͤmer Lebhaftigkeit begonnene und durch heftige Gefuͤhle be¬
ſchleunigte Spiel zur Bethoͤrung des Geiſtes fort, nachdem das
Fieber ſchon zu ſeinem vollen Ablauf gelangt war. Wie ſee¬
lig ſie ſich aber auch in den Augenblicken der himmliſchen Vi¬
ſionen gefuͤhlt hatte, ſo war doch ihr geiſtig koͤrperlicher Zu¬
ſtand in eine ſo heftige Erſchuͤtterung verſetzt worden, als daß
ſie ſich derſelben nicht durch peinliche Gefuͤhle haͤtte bewußt
werden ſollen, welche die Phantaſie als treues Echo aller An¬
klaͤnge des Gemuͤths in analogen Bildern ſymboliſirte. Sie
glaubte dann, der Teufel verfolge ſie, und wenn ſie ihn auch
damals noch nicht leibhaftig ſah, ſo kam es ihr doch vor, als
ob er hinter ihrem Ruͤcken huſte, und ſie ergreifen wolle, um
ſie gewaltſam von den Ihrigen loszureißen und auf immer zu
trennen. Aus dieſer Vorſtellung ging eine andere hervor,
welche ſich auf lange Zeit in ihrem Bewußtſein als der eigent¬
liche Ausgangspunkt ihres Wahnſinns fixirte. Sie glaubte
naͤmlich eine ſchwere Suͤnderin zu ſein, der Gott ihr Kind
zur Strafe nehmen wolle, indem daſſelbe ſeinem Zorn zur
Suͤhne fuͤr das ganze Menſchengeſchlecht gebracht werden ſolle.
Von dem heftigſten Entſetzen wurde ſie in ihrem Muttergefuͤhl
getroffen, als ſie in ihrem Innern die Offenbarung zu ver¬
nehmen waͤhnte, daß ſie ſelbſt dies Opfer vollziehen muͤſſe,
daher ſie dann wiederholt in raſender Angſt aus dem Bette
ſprang, um das Kind zu ergreifen und ſich mit ihm ins Waſ¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0141" n="133"/>
der Bedingungen, welche die Ent&#x017F;tehung einer &#x017F;elb&#x017F;t&#x017F;ta&#x0364;ndigen<lb/>
Seelen&#x017F;to&#x0364;rung aus einem u&#x0364;brigens glu&#x0364;cklich abgelaufenen Fie¬<lb/>
ber veranla&#x017F;&#x017F;en, i&#x017F;t im Allgemeinen &#x017F;ehr &#x017F;chwierig, und Alles,<lb/>
was &#x017F;ich daru&#x0364;ber im vorliegenden Falle ohne gewagte Voraus¬<lb/>
&#x017F;etzungen &#x017F;agen la&#x0364;ßt, du&#x0364;rfte &#x017F;ich darauf be&#x017F;chra&#x0364;nken, daß unter<lb/>
den Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;en des Wochenbettes, welche &#x017F;o oft die Ent&#x017F;te¬<lb/>
hung einer Gei&#x017F;teskrankheit begu&#x0364;n&#x017F;tigen, die außerordentliche<lb/>
Lebhaftigkeit der Fieberdelirien eine tiefe Er&#x017F;chu&#x0364;tterung des Ge¬<lb/>
mu&#x0364;ths bewirkte, welche eine Exaltation des in ihm &#x017F;tark her¬<lb/>
vortretenden religio&#x0364;&#x017F;en Gefu&#x0364;hls veranlaßte, de&#x017F;&#x017F;en Erregung<lb/>
vorzugswei&#x017F;e durch die himmli&#x017F;chen Bilder, und durch die To¬<lb/>
desgedanken in den Stunden der wiederkehrenden Be&#x017F;innung<lb/>
ge&#x017F;teigert und dauernd erhalten wurde. Ihre von jeher &#x017F;ehr<lb/>
ge&#x017F;cha&#x0364;ftige und bilderreiche Phanta&#x017F;ie &#x017F;etzte daher das mit un¬<lb/>
ge&#x017F;tu&#x0364;mer Lebhaftigkeit begonnene und durch heftige Gefu&#x0364;hle be¬<lb/>
&#x017F;chleunigte Spiel zur Betho&#x0364;rung des Gei&#x017F;tes fort, nachdem das<lb/>
Fieber &#x017F;chon zu &#x017F;einem vollen Ablauf gelangt war. Wie &#x017F;ee¬<lb/>
lig &#x017F;ie &#x017F;ich aber auch in den Augenblicken der himmli&#x017F;chen Vi¬<lb/>
&#x017F;ionen gefu&#x0364;hlt hatte, &#x017F;o war doch ihr gei&#x017F;tig ko&#x0364;rperlicher Zu¬<lb/>
&#x017F;tand in eine &#x017F;o heftige Er&#x017F;chu&#x0364;tterung ver&#x017F;etzt worden, als daß<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;ich der&#x017F;elben nicht durch peinliche Gefu&#x0364;hle ha&#x0364;tte bewußt<lb/>
werden &#x017F;ollen, welche die Phanta&#x017F;ie als treues Echo aller An¬<lb/>
kla&#x0364;nge des Gemu&#x0364;ths in analogen Bildern &#x017F;ymboli&#x017F;irte. Sie<lb/>
glaubte dann, der Teufel verfolge &#x017F;ie, und wenn &#x017F;ie ihn auch<lb/>
damals noch nicht leibhaftig &#x017F;ah, &#x017F;o kam es ihr doch vor, als<lb/>
ob er hinter ihrem Ru&#x0364;cken hu&#x017F;te, und &#x017F;ie ergreifen wolle, um<lb/>
&#x017F;ie gewalt&#x017F;am von den Ihrigen loszureißen und auf immer zu<lb/>
trennen. Aus die&#x017F;er Vor&#x017F;tellung ging eine andere hervor,<lb/>
welche &#x017F;ich auf lange Zeit in ihrem Bewußt&#x017F;ein als der eigent¬<lb/>
liche Ausgangspunkt ihres Wahn&#x017F;inns fixirte. Sie glaubte<lb/>
na&#x0364;mlich eine &#x017F;chwere Su&#x0364;nderin zu &#x017F;ein, der Gott ihr Kind<lb/>
zur Strafe nehmen wolle, indem da&#x017F;&#x017F;elbe &#x017F;einem Zorn zur<lb/>
Su&#x0364;hne fu&#x0364;r das ganze Men&#x017F;chenge&#x017F;chlecht gebracht werden &#x017F;olle.<lb/>
Von dem heftig&#x017F;ten Ent&#x017F;etzen wurde &#x017F;ie in ihrem Muttergefu&#x0364;hl<lb/>
getroffen, als &#x017F;ie in ihrem Innern die Offenbarung zu ver¬<lb/>
nehmen wa&#x0364;hnte, daß &#x017F;ie &#x017F;elb&#x017F;t dies Opfer vollziehen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e,<lb/>
daher &#x017F;ie dann wiederholt in ra&#x017F;ender Ang&#x017F;t aus dem Bette<lb/>
&#x017F;prang, um das Kind zu ergreifen und &#x017F;ich mit ihm ins Wa&#x017F;¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[133/0141] der Bedingungen, welche die Entſtehung einer ſelbſtſtaͤndigen Seelenſtoͤrung aus einem uͤbrigens gluͤcklich abgelaufenen Fie¬ ber veranlaſſen, iſt im Allgemeinen ſehr ſchwierig, und Alles, was ſich daruͤber im vorliegenden Falle ohne gewagte Voraus¬ ſetzungen ſagen laͤßt, duͤrfte ſich darauf beſchraͤnken, daß unter den Verhaͤltniſſen des Wochenbettes, welche ſo oft die Entſte¬ hung einer Geiſteskrankheit beguͤnſtigen, die außerordentliche Lebhaftigkeit der Fieberdelirien eine tiefe Erſchuͤtterung des Ge¬ muͤths bewirkte, welche eine Exaltation des in ihm ſtark her¬ vortretenden religioͤſen Gefuͤhls veranlaßte, deſſen Erregung vorzugsweiſe durch die himmliſchen Bilder, und durch die To¬ desgedanken in den Stunden der wiederkehrenden Beſinnung geſteigert und dauernd erhalten wurde. Ihre von jeher ſehr geſchaͤftige und bilderreiche Phantaſie ſetzte daher das mit un¬ geſtuͤmer Lebhaftigkeit begonnene und durch heftige Gefuͤhle be¬ ſchleunigte Spiel zur Bethoͤrung des Geiſtes fort, nachdem das Fieber ſchon zu ſeinem vollen Ablauf gelangt war. Wie ſee¬ lig ſie ſich aber auch in den Augenblicken der himmliſchen Vi¬ ſionen gefuͤhlt hatte, ſo war doch ihr geiſtig koͤrperlicher Zu¬ ſtand in eine ſo heftige Erſchuͤtterung verſetzt worden, als daß ſie ſich derſelben nicht durch peinliche Gefuͤhle haͤtte bewußt werden ſollen, welche die Phantaſie als treues Echo aller An¬ klaͤnge des Gemuͤths in analogen Bildern ſymboliſirte. Sie glaubte dann, der Teufel verfolge ſie, und wenn ſie ihn auch damals noch nicht leibhaftig ſah, ſo kam es ihr doch vor, als ob er hinter ihrem Ruͤcken huſte, und ſie ergreifen wolle, um ſie gewaltſam von den Ihrigen loszureißen und auf immer zu trennen. Aus dieſer Vorſtellung ging eine andere hervor, welche ſich auf lange Zeit in ihrem Bewußtſein als der eigent¬ liche Ausgangspunkt ihres Wahnſinns fixirte. Sie glaubte naͤmlich eine ſchwere Suͤnderin zu ſein, der Gott ihr Kind zur Strafe nehmen wolle, indem daſſelbe ſeinem Zorn zur Suͤhne fuͤr das ganze Menſchengeſchlecht gebracht werden ſolle. Von dem heftigſten Entſetzen wurde ſie in ihrem Muttergefuͤhl getroffen, als ſie in ihrem Innern die Offenbarung zu ver¬ nehmen waͤhnte, daß ſie ſelbſt dies Opfer vollziehen muͤſſe, daher ſie dann wiederholt in raſender Angſt aus dem Bette ſprang, um das Kind zu ergreifen und ſich mit ihm ins Waſ¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/141
Zitationshilfe: Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/141>, abgerufen am 24.11.2024.