Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.ser zu stürzen. Dieser schreckliche Auftritt wiederholte sich in Hier saß sie tagelang am Fenster und starrte unbeweglich ſer zu ſtuͤrzen. Dieſer ſchreckliche Auftritt wiederholte ſich in Hier ſaß ſie tagelang am Fenſter und ſtarrte unbeweglich <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0142" n="134"/> ſer zu ſtuͤrzen. Dieſer ſchreckliche Auftritt wiederholte ſich in<lb/> ihrer Wohnung mehrmals, nur mit Muͤhe konnte ſie ins Bette<lb/> zuruͤckgebracht werden, indem ſie ſchrie, Gott habe es ihr be¬<lb/> fohlen, ſie muͤſſe gehorchen. Da ſie zugleich mit dem Wahn<lb/> behaftet war, daß ihre Angſt durch Gift veranlaßt worden ſei,<lb/> welches man ihr in der Arznei reiche, und ſie dieſelbe jedesmal<lb/> zuruͤckſchlug; ſo wurde ihre Aufnahme in die Charité noth¬<lb/> wendig.</p><lb/> <p>Hier ſaß ſie tagelang am Fenſter und ſtarrte unbeweglich<lb/> hinaus, indem ſie wehklagte, daß ihr Kind in die Kirche ge¬<lb/> bracht werden ſolle, um daſelbſt fuͤr die Suͤnden der Welt von<lb/> einem Geiſtlichen geopfert zu werden, welches aber waͤhrend<lb/> des Sonnenſcheins geſchehen muͤſſe, da nach dem Untergange<lb/> der Sonne das Opfer ſeine Kraft verlieren werde. In einer<lb/> Nacht ſah ſie noch einmal den Himmel offen, aus welchem<lb/> Choͤre von Seeligen, zu denen auch ſie zu gehoͤren glaubte,<lb/> zu ihr herabſchwebten. Ein anderes Mal ſah ſie Gott wie¬<lb/> der als flammendes Sonnengeſicht, welches der Teufel an der<lb/> Naſe faßte und zur Erde herabzog, um mit ihm um die Herr¬<lb/> ſchaft der Welt einen Kampf anzufangen, deſſen Ende ſie nicht<lb/> ſah, wobei ſie indeß eine große Angſt empfand. Die An¬<lb/> wendung lauwarmer Baͤder mit kalten Uebergießungen uͤber<lb/> den Kopf nebſt gelinden Abfuͤhrungen brachte nur in ſo¬<lb/> fern eine guͤnſtige Wirkung hervor, als ſie allmaͤhlig, des<lb/> Nachts einen ruhigeren Schlaf erlangte, und auch am Tage<lb/> nicht mehr eine ſo heftige Aufregung wahrnehmen ließ. Indeß<lb/> bis zu Ende des Octobers trat in ihren Wahnvorſtellungen<lb/> keine weſentliche Veraͤnderung ein, vielmehr war ihr Bewußt¬<lb/> ſein ſo gaͤnzlich erfuͤllt von der Vorſtellung, ihr Kind muͤſſe<lb/> beim Schein der Sonne, in welcher ſie die Anweſenheit Got¬<lb/> tes wahrzunehmen glaubte, von einem Prieſter als einem Ge¬<lb/> weihten der Kirche zur Suͤhne fuͤr die Suͤnden der Menſchen<lb/> geopfert werden, wenn nicht alle bei lebendem Leibe verfaulen<lb/> ſollten, daß ſie auf gar kein anderes Geſpraͤch ſich einließ, ſon¬<lb/> dern mit dem Ausdruck tiefer Angſt am Fenſter ſaß, und re¬<lb/> gungslos hinausſtierte. Nur darin war ſie mit ſich uneins,<lb/> daß ſie bald von Gott, bald vom Teufel die Aufforderung zu<lb/> einer ſo ſchrecklichen That durch den Zuruf von Stimmen er¬<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [134/0142]
ſer zu ſtuͤrzen. Dieſer ſchreckliche Auftritt wiederholte ſich in
ihrer Wohnung mehrmals, nur mit Muͤhe konnte ſie ins Bette
zuruͤckgebracht werden, indem ſie ſchrie, Gott habe es ihr be¬
fohlen, ſie muͤſſe gehorchen. Da ſie zugleich mit dem Wahn
behaftet war, daß ihre Angſt durch Gift veranlaßt worden ſei,
welches man ihr in der Arznei reiche, und ſie dieſelbe jedesmal
zuruͤckſchlug; ſo wurde ihre Aufnahme in die Charité noth¬
wendig.
Hier ſaß ſie tagelang am Fenſter und ſtarrte unbeweglich
hinaus, indem ſie wehklagte, daß ihr Kind in die Kirche ge¬
bracht werden ſolle, um daſelbſt fuͤr die Suͤnden der Welt von
einem Geiſtlichen geopfert zu werden, welches aber waͤhrend
des Sonnenſcheins geſchehen muͤſſe, da nach dem Untergange
der Sonne das Opfer ſeine Kraft verlieren werde. In einer
Nacht ſah ſie noch einmal den Himmel offen, aus welchem
Choͤre von Seeligen, zu denen auch ſie zu gehoͤren glaubte,
zu ihr herabſchwebten. Ein anderes Mal ſah ſie Gott wie¬
der als flammendes Sonnengeſicht, welches der Teufel an der
Naſe faßte und zur Erde herabzog, um mit ihm um die Herr¬
ſchaft der Welt einen Kampf anzufangen, deſſen Ende ſie nicht
ſah, wobei ſie indeß eine große Angſt empfand. Die An¬
wendung lauwarmer Baͤder mit kalten Uebergießungen uͤber
den Kopf nebſt gelinden Abfuͤhrungen brachte nur in ſo¬
fern eine guͤnſtige Wirkung hervor, als ſie allmaͤhlig, des
Nachts einen ruhigeren Schlaf erlangte, und auch am Tage
nicht mehr eine ſo heftige Aufregung wahrnehmen ließ. Indeß
bis zu Ende des Octobers trat in ihren Wahnvorſtellungen
keine weſentliche Veraͤnderung ein, vielmehr war ihr Bewußt¬
ſein ſo gaͤnzlich erfuͤllt von der Vorſtellung, ihr Kind muͤſſe
beim Schein der Sonne, in welcher ſie die Anweſenheit Got¬
tes wahrzunehmen glaubte, von einem Prieſter als einem Ge¬
weihten der Kirche zur Suͤhne fuͤr die Suͤnden der Menſchen
geopfert werden, wenn nicht alle bei lebendem Leibe verfaulen
ſollten, daß ſie auf gar kein anderes Geſpraͤch ſich einließ, ſon¬
dern mit dem Ausdruck tiefer Angſt am Fenſter ſaß, und re¬
gungslos hinausſtierte. Nur darin war ſie mit ſich uneins,
daß ſie bald von Gott, bald vom Teufel die Aufforderung zu
einer ſo ſchrecklichen That durch den Zuruf von Stimmen er¬
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |