würde, da die nun folgenden Gestalten ihr nicht mehr kör¬ perlich plastisch, sondern nur als Schatten erschienen. Zuerst sah sie Männer, wie auf einer Schaubühne mit Coulissen, dann gallopirten Schaaren von Reutern wie zum Fastnacht¬ spiel maskirt ins Zimmer, hierauf eine Dame in grauem Man¬ tel gleichsam als Büßerin, da sie unter einem Stuhl nieder¬ kauern mußte, und die über denselben fortlaufenden Krähen zählte, während ein Herr gleichfalls in grauem Mantel und einem königlichen zweizipfeligen Hute, und ein Greis in glei¬ chem Mantel sich daneben stellte. Später wurde ein Kreis von Bürgern geschlossen, in welchem ein Officier hineingallo¬ pirte; darauf öffnete sich ein viereckiges Grab von grünem Rasen umgeben, aus welchem Männer sich erhoben, um durch die Fenster eines Saals zu steigen, in welchem sie einen lau¬ ten Jubel anstimmten. Unter ihnen befanden sich zwei schon gestorbene alte Jungfern, frühere Besitzerinnen jenes Saales, bei deren Anblick die G. sich fragte, ob sie im Grabe nicht Ruhe hätten, und daher auf die Erde zurückgekehrt wären?
Dies Gaukelspiel der Phantasie, von welchem gewiß eine Menge von Bildern aus ihrem Gedächtniß verschwunden ist, nahm hierauf eine bestimmtere Bedeutung an, insofern nun eine wirkliche religiöse Beziehung hervortrat, und seitdem blei¬ bend geworden ist. Als sie nämlich einmal mehrere Pferde sah, hielt sie dieselben für verwünschte Menschen, von denen sie in Zaubermährchen gelesen hatte, besonders kamen ihr zwei präch¬ tig aufgeschirrte Rosse als Grafen und Fürsten vor. Hierbei ent¬ wickelte sich in ihr die Vorstellung, daß alle Menschen zur Strafe ihrer Sünden in Thiere verwandelt werden müßten, um der Buße, welche Christus für sie gethan, Genüge zu leisten. Erst hier¬ auf könne ihre Verwandlung in Engel geschehen, in welcher sie ihre Auferstehung feierten, und welche die G. wahrzunehmen glaubte. Sie sah, wie unförmliche Schatten in Moos verhüllt, und in einem Teich von Silberwasser gelegt wurden, um hier¬ auf zuerst in graue, und dann in blaue Engel verwandelt zu werden, welche zwar schon eine bestimmte Gestalt, aber noch kein deutliches Gesicht hatten. Die blauen Engel nahmen endlich die ganz unbekleidete Gestalt der Fleischengel an, welche zur Erde niederschwebten, und die von Christus in einem Hause eingesperr¬
wuͤrde, da die nun folgenden Geſtalten ihr nicht mehr koͤr¬ perlich plaſtiſch, ſondern nur als Schatten erſchienen. Zuerſt ſah ſie Maͤnner, wie auf einer Schaubuͤhne mit Couliſſen, dann gallopirten Schaaren von Reutern wie zum Faſtnacht¬ ſpiel maskirt ins Zimmer, hierauf eine Dame in grauem Man¬ tel gleichſam als Buͤßerin, da ſie unter einem Stuhl nieder¬ kauern mußte, und die uͤber denſelben fortlaufenden Kraͤhen zaͤhlte, waͤhrend ein Herr gleichfalls in grauem Mantel und einem koͤniglichen zweizipfeligen Hute, und ein Greis in glei¬ chem Mantel ſich daneben ſtellte. Spaͤter wurde ein Kreis von Buͤrgern geſchloſſen, in welchem ein Officier hineingallo¬ pirte; darauf oͤffnete ſich ein viereckiges Grab von gruͤnem Raſen umgeben, aus welchem Maͤnner ſich erhoben, um durch die Fenſter eines Saals zu ſteigen, in welchem ſie einen lau¬ ten Jubel anſtimmten. Unter ihnen befanden ſich zwei ſchon geſtorbene alte Jungfern, fruͤhere Beſitzerinnen jenes Saales, bei deren Anblick die G. ſich fragte, ob ſie im Grabe nicht Ruhe haͤtten, und daher auf die Erde zuruͤckgekehrt waͤren?
Dies Gaukelſpiel der Phantaſie, von welchem gewiß eine Menge von Bildern aus ihrem Gedaͤchtniß verſchwunden iſt, nahm hierauf eine beſtimmtere Bedeutung an, inſofern nun eine wirkliche religioͤſe Beziehung hervortrat, und ſeitdem blei¬ bend geworden iſt. Als ſie naͤmlich einmal mehrere Pferde ſah, hielt ſie dieſelben fuͤr verwuͤnſchte Menſchen, von denen ſie in Zaubermaͤhrchen geleſen hatte, beſonders kamen ihr zwei praͤch¬ tig aufgeſchirrte Roſſe als Grafen und Fuͤrſten vor. Hierbei ent¬ wickelte ſich in ihr die Vorſtellung, daß alle Menſchen zur Strafe ihrer Suͤnden in Thiere verwandelt werden muͤßten, um der Buße, welche Chriſtus fuͤr ſie gethan, Genuͤge zu leiſten. Erſt hier¬ auf koͤnne ihre Verwandlung in Engel geſchehen, in welcher ſie ihre Auferſtehung feierten, und welche die G. wahrzunehmen glaubte. Sie ſah, wie unfoͤrmliche Schatten in Moos verhuͤllt, und in einem Teich von Silberwaſſer gelegt wurden, um hier¬ auf zuerſt in graue, und dann in blaue Engel verwandelt zu werden, welche zwar ſchon eine beſtimmte Geſtalt, aber noch kein deutliches Geſicht hatten. Die blauen Engel nahmen endlich die ganz unbekleidete Geſtalt der Fleiſchengel an, welche zur Erde niederſchwebten, und die von Chriſtus in einem Hauſe eingeſperr¬
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wuͤrde, da die nun folgenden Geſtalten ihr nicht mehr koͤr¬
perlich plaſtiſch, ſondern nur als Schatten erſchienen. Zuerſt
ſah ſie Maͤnner, wie auf einer Schaubuͤhne mit Couliſſen,
dann gallopirten Schaaren von Reutern wie zum Faſtnacht¬
ſpiel maskirt ins Zimmer, hierauf eine Dame in grauem Man¬
tel gleichſam als Buͤßerin, da ſie unter einem Stuhl nieder¬
kauern mußte, und die uͤber denſelben fortlaufenden Kraͤhen
zaͤhlte, waͤhrend ein Herr gleichfalls in grauem Mantel und
einem koͤniglichen zweizipfeligen Hute, und ein Greis in glei¬
chem Mantel ſich daneben ſtellte. Spaͤter wurde ein Kreis
von Buͤrgern geſchloſſen, in welchem ein Officier hineingallo¬
pirte; darauf oͤffnete ſich ein viereckiges Grab von gruͤnem
Raſen umgeben, aus welchem Maͤnner ſich erhoben, um durch
die Fenſter eines Saals zu ſteigen, in welchem ſie einen lau¬
ten Jubel anſtimmten. Unter ihnen befanden ſich zwei ſchon
geſtorbene alte Jungfern, fruͤhere Beſitzerinnen jenes Saales,
bei deren Anblick die G. ſich fragte, ob ſie im Grabe nicht
Ruhe haͤtten, und daher auf die Erde zuruͤckgekehrt waͤren?
Dies Gaukelſpiel der Phantaſie, von welchem gewiß eine
Menge von Bildern aus ihrem Gedaͤchtniß verſchwunden iſt,
nahm hierauf eine beſtimmtere Bedeutung an, inſofern nun
eine wirkliche religioͤſe Beziehung hervortrat, und ſeitdem blei¬
bend geworden iſt. Als ſie naͤmlich einmal mehrere Pferde
ſah, hielt ſie dieſelben fuͤr verwuͤnſchte Menſchen, von denen ſie
in Zaubermaͤhrchen geleſen hatte, beſonders kamen ihr zwei praͤch¬
tig aufgeſchirrte Roſſe als Grafen und Fuͤrſten vor. Hierbei ent¬
wickelte ſich in ihr die Vorſtellung, daß alle Menſchen zur Strafe
ihrer Suͤnden in Thiere verwandelt werden muͤßten, um der
Buße, welche Chriſtus fuͤr ſie gethan, Genuͤge zu leiſten. Erſt hier¬
auf koͤnne ihre Verwandlung in Engel geſchehen, in welcher ſie
ihre Auferſtehung feierten, und welche die G. wahrzunehmen
glaubte. Sie ſah, wie unfoͤrmliche Schatten in Moos verhuͤllt,
und in einem Teich von Silberwaſſer gelegt wurden, um hier¬
auf zuerſt in graue, und dann in blaue Engel verwandelt zu
werden, welche zwar ſchon eine beſtimmte Geſtalt, aber noch kein
deutliches Geſicht hatten. Die blauen Engel nahmen endlich die
ganz unbekleidete Geſtalt der Fleiſchengel an, welche zur Erde
niederſchwebten, und die von Chriſtus in einem Hauſe eingeſperr¬
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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 142. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/150>, abgerufen am 16.02.2025.
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