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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.

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ihre Kundschaft verlieren. Nur wenn die Uebel zu arg wer¬
den, hilft Gott unmittelbar durch Wunder; z. B. wenn
Zimmerleute vom Gerüst herabfallen, ist er sogleich bei der
Hand, um sie wieder aufzubauen, Verbrecher müssen hinge¬
richtet werden, damit Gott sie von neuem bereite.

Werfen wir noch einen Blick auf die Entstehung ihres
Wahnsinns, so läßt sich derselbe seinem Ursprunge nach kaum
als ein religiöser bezeichnen, da die ersten Visionen wohl nur
das Erzeugniß eines durch Kummer bewegten Gemüths waren,
dessen Erregung unter dem Einfluß einer krankhaften Gehirn¬
reizung sich zuerst unter bedeutungslosen Visionen abspiegelte.
Auch versichert sie, in den ersten Tagen jene Erscheinungen
nicht für himmlische gehalten zu haben, sondern durch sie in
Erstaunen versetzt worden zu sein, da sie denselben keine be¬
stimmte Bedeutung beilegen konnte. Aber sie fühlte sich bei
der steten Wiederkehr und mannigfaltigen Umgestaltung jener
Visionen, wodurch ihre Aufmerksamkeit ganz absorbirt wurde,
ihren bisherigen Verhältnissen völlig entrückt, und in eine
neue Welt versetzt, in deren phantastischen Erscheinungen
sich der Verstand zuletzt nur dadurch orientiren konnte, daß er
in ihnen eine Verwirklichung der Glaubensdogmen sah, und
dadurch das Gemüth in eine anhaltende religiöse Erregung
versetzte. Hierdurch erlangten zugleich die Visionen ungeachtet
ihrer steten Verwandlungen einen bleibenden Charakter, der
wie ein leitender Faden durch das Ganze geht, und ein Ab¬
schweifen der Phantasie auf wesentlich verschiedenartige Bilder
verhindert.

13.

H., 34 Jahre alt, aus Kopenhagen gebürtig, ist der
Sohn eines Porzellanhändlers, welcher im Wohlstande lebte,
und daher seinen acht Kindern eine angemessene Erziehung
geben konnte. Die frühere Jugend des H. verstrich daher
unter angenehmen Verhältnissen, da der Vater, zwar streng in
seinen Grundsätzen, doch auch seinen Kindern erlaubte Freu¬
den gönnte, weshalb ersterer als ein munterer und meist auch
gesunder Knabe aufwuchs. Er besuchte bis zu seiner im

10 *

ihre Kundſchaft verlieren. Nur wenn die Uebel zu arg wer¬
den, hilft Gott unmittelbar durch Wunder; z. B. wenn
Zimmerleute vom Geruͤſt herabfallen, iſt er ſogleich bei der
Hand, um ſie wieder aufzubauen, Verbrecher muͤſſen hinge¬
richtet werden, damit Gott ſie von neuem bereite.

Werfen wir noch einen Blick auf die Entſtehung ihres
Wahnſinns, ſo laͤßt ſich derſelbe ſeinem Urſprunge nach kaum
als ein religioͤſer bezeichnen, da die erſten Viſionen wohl nur
das Erzeugniß eines durch Kummer bewegten Gemuͤths waren,
deſſen Erregung unter dem Einfluß einer krankhaften Gehirn¬
reizung ſich zuerſt unter bedeutungsloſen Viſionen abſpiegelte.
Auch verſichert ſie, in den erſten Tagen jene Erſcheinungen
nicht fuͤr himmliſche gehalten zu haben, ſondern durch ſie in
Erſtaunen verſetzt worden zu ſein, da ſie denſelben keine be¬
ſtimmte Bedeutung beilegen konnte. Aber ſie fuͤhlte ſich bei
der ſteten Wiederkehr und mannigfaltigen Umgeſtaltung jener
Viſionen, wodurch ihre Aufmerkſamkeit ganz abſorbirt wurde,
ihren bisherigen Verhaͤltniſſen voͤllig entruͤckt, und in eine
neue Welt verſetzt, in deren phantaſtiſchen Erſcheinungen
ſich der Verſtand zuletzt nur dadurch orientiren konnte, daß er
in ihnen eine Verwirklichung der Glaubensdogmen ſah, und
dadurch das Gemuͤth in eine anhaltende religioͤſe Erregung
verſetzte. Hierdurch erlangten zugleich die Viſionen ungeachtet
ihrer ſteten Verwandlungen einen bleibenden Charakter, der
wie ein leitender Faden durch das Ganze geht, und ein Ab¬
ſchweifen der Phantaſie auf weſentlich verſchiedenartige Bilder
verhindert.

13.

H., 34 Jahre alt, aus Kopenhagen gebuͤrtig, iſt der
Sohn eines Porzellanhaͤndlers, welcher im Wohlſtande lebte,
und daher ſeinen acht Kindern eine angemeſſene Erziehung
geben konnte. Die fruͤhere Jugend des H. verſtrich daher
unter angenehmen Verhaͤltniſſen, da der Vater, zwar ſtreng in
ſeinen Grundſaͤtzen, doch auch ſeinen Kindern erlaubte Freu¬
den goͤnnte, weshalb erſterer als ein munterer und meiſt auch
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10 *
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[147/0155] ihre Kundſchaft verlieren. Nur wenn die Uebel zu arg wer¬ den, hilft Gott unmittelbar durch Wunder; z. B. wenn Zimmerleute vom Geruͤſt herabfallen, iſt er ſogleich bei der Hand, um ſie wieder aufzubauen, Verbrecher muͤſſen hinge¬ richtet werden, damit Gott ſie von neuem bereite. Werfen wir noch einen Blick auf die Entſtehung ihres Wahnſinns, ſo laͤßt ſich derſelbe ſeinem Urſprunge nach kaum als ein religioͤſer bezeichnen, da die erſten Viſionen wohl nur das Erzeugniß eines durch Kummer bewegten Gemuͤths waren, deſſen Erregung unter dem Einfluß einer krankhaften Gehirn¬ reizung ſich zuerſt unter bedeutungsloſen Viſionen abſpiegelte. Auch verſichert ſie, in den erſten Tagen jene Erſcheinungen nicht fuͤr himmliſche gehalten zu haben, ſondern durch ſie in Erſtaunen verſetzt worden zu ſein, da ſie denſelben keine be¬ ſtimmte Bedeutung beilegen konnte. Aber ſie fuͤhlte ſich bei der ſteten Wiederkehr und mannigfaltigen Umgeſtaltung jener Viſionen, wodurch ihre Aufmerkſamkeit ganz abſorbirt wurde, ihren bisherigen Verhaͤltniſſen voͤllig entruͤckt, und in eine neue Welt verſetzt, in deren phantaſtiſchen Erſcheinungen ſich der Verſtand zuletzt nur dadurch orientiren konnte, daß er in ihnen eine Verwirklichung der Glaubensdogmen ſah, und dadurch das Gemuͤth in eine anhaltende religioͤſe Erregung verſetzte. Hierdurch erlangten zugleich die Viſionen ungeachtet ihrer ſteten Verwandlungen einen bleibenden Charakter, der wie ein leitender Faden durch das Ganze geht, und ein Ab¬ ſchweifen der Phantaſie auf weſentlich verſchiedenartige Bilder verhindert. 13. H., 34 Jahre alt, aus Kopenhagen gebuͤrtig, iſt der Sohn eines Porzellanhaͤndlers, welcher im Wohlſtande lebte, und daher ſeinen acht Kindern eine angemeſſene Erziehung geben konnte. Die fruͤhere Jugend des H. verſtrich daher unter angenehmen Verhaͤltniſſen, da der Vater, zwar ſtreng in ſeinen Grundſaͤtzen, doch auch ſeinen Kindern erlaubte Freu¬ den goͤnnte, weshalb erſterer als ein munterer und meiſt auch geſunder Knabe aufwuchs. Er beſuchte bis zu ſeiner im 10 *

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Zitationshilfe: Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 147. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/155>, abgerufen am 27.11.2024.