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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.

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tete, bald erschien ihm die dargereichte Arznei als Gift, oder
er erwartete von Hunden gehetzt und erwürgt zu werden.

Nach diesen stürmischen Auftritten folgten ruhigere Tage,
an welchen ihn zwar die bisher geschilderten Wahnvorstellun¬
gen noch mannigfach beschäftigten, es ihm jedoch gestatteten,
unter Begleitung im Freien spazieren zu gehen, ja er fing
schon wieder an, Unterricht zu ertheilen. Indeß nach einigen
Wochen steigerte sich das nur zurückgetretene Gemüthsleiden
wieder bis zur heftigsten Tobsucht, welche ihn zu einem ge¬
waltsamen Ringen mit seinem Wärter antrieb, und von ihm
selbst für einen Anfall der Hundswuth gehalten wurde, wes¬
halb er ein lautes Hundegebell anhob, wobei ihm reichlicher
Schleim aus dem Munde floß. In einer Nacht wurde er
von einer Menge Visionen ergötzt, welche ganz die Lebendig¬
keit und Frische wirklicher Anschauungen hatten; er sah schöne
Gegenden, volkreiche Städte, ferner einen mit 2 Rossen be¬
spannten Wagen, auf welchem eine Heldengestalt, eine Gei¬
ßel schwingend aus dem Himmel auf die Erde herabschwebte,
u. dgl. Auch diesmal tobte sich sein Aufruhr in wenigen
Tagen aus, und er erlangte so viele scheinbare Besinnung,
daß er zu einer Reise nach Berlin bewogen werden konnte,
um bei einem hier wohnenden Bruder eine günstigere Gele¬
genheit zu seiner Wiederherstellung zu finden. Wirklich schien
er sich in einem solchen Grade beruhigt zu haben, daß er die
Sehenswürdigkeiten der Residenz in Augenschein nehmen konnte.
Besonders beschäftigten ihn die Frescogemälde im Königl. Mu¬
seum, welche ihm die Bemerkung aufdrangen, wir lebten in
einer Zeit, worin fast in allen Zweigen des geistigen Lebens
die Gegensätze bis zur größten Spannung gekommen seien,
welche darauf hinwiesen, daß in der nächsten Zeit etwas ge¬
schehen müsse, die extremen Gegensätze in eine höhere Einheit
zu bringen. So waren auch die Frescogemälde Beläge für
das erwachte Streben, die antike, heidnische Kunst mit der
christlichen zu verschmelzen. Deshalb war er eifrig bemüht,
die griechische Mythologie und die religiösen Vorstellungen an¬
derer Völker mit dem christlichen Lehrgebäude in Einheit zu
bringen, wobei die Lehren von den Engeln ihm den Dienst
der Vermittelung leisten sollten. Auch besuchte er einige Vor¬

tete, bald erſchien ihm die dargereichte Arznei als Gift, oder
er erwartete von Hunden gehetzt und erwuͤrgt zu werden.

Nach dieſen ſtuͤrmiſchen Auftritten folgten ruhigere Tage,
an welchen ihn zwar die bisher geſchilderten Wahnvorſtellun¬
gen noch mannigfach beſchaͤftigten, es ihm jedoch geſtatteten,
unter Begleitung im Freien ſpazieren zu gehen, ja er fing
ſchon wieder an, Unterricht zu ertheilen. Indeß nach einigen
Wochen ſteigerte ſich das nur zuruͤckgetretene Gemuͤthsleiden
wieder bis zur heftigſten Tobſucht, welche ihn zu einem ge¬
waltſamen Ringen mit ſeinem Waͤrter antrieb, und von ihm
ſelbſt fuͤr einen Anfall der Hundswuth gehalten wurde, wes¬
halb er ein lautes Hundegebell anhob, wobei ihm reichlicher
Schleim aus dem Munde floß. In einer Nacht wurde er
von einer Menge Viſionen ergoͤtzt, welche ganz die Lebendig¬
keit und Friſche wirklicher Anſchauungen hatten; er ſah ſchoͤne
Gegenden, volkreiche Staͤdte, ferner einen mit 2 Roſſen be¬
ſpannten Wagen, auf welchem eine Heldengeſtalt, eine Gei¬
ßel ſchwingend aus dem Himmel auf die Erde herabſchwebte,
u. dgl. Auch diesmal tobte ſich ſein Aufruhr in wenigen
Tagen aus, und er erlangte ſo viele ſcheinbare Beſinnung,
daß er zu einer Reiſe nach Berlin bewogen werden konnte,
um bei einem hier wohnenden Bruder eine guͤnſtigere Gele¬
genheit zu ſeiner Wiederherſtellung zu finden. Wirklich ſchien
er ſich in einem ſolchen Grade beruhigt zu haben, daß er die
Sehenswuͤrdigkeiten der Reſidenz in Augenſchein nehmen konnte.
Beſonders beſchaͤftigten ihn die Frescogemaͤlde im Koͤnigl. Mu¬
ſeum, welche ihm die Bemerkung aufdrangen, wir lebten in
einer Zeit, worin faſt in allen Zweigen des geiſtigen Lebens
die Gegenſaͤtze bis zur groͤßten Spannung gekommen ſeien,
welche darauf hinwieſen, daß in der naͤchſten Zeit etwas ge¬
ſchehen muͤſſe, die extremen Gegenſaͤtze in eine hoͤhere Einheit
zu bringen. So waren auch die Frescogemaͤlde Belaͤge fuͤr
das erwachte Streben, die antike, heidniſche Kunſt mit der
chriſtlichen zu verſchmelzen. Deshalb war er eifrig bemuͤht,
die griechiſche Mythologie und die religioͤſen Vorſtellungen an¬
derer Voͤlker mit dem chriſtlichen Lehrgebaͤude in Einheit zu
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[205/0213] tete, bald erſchien ihm die dargereichte Arznei als Gift, oder er erwartete von Hunden gehetzt und erwuͤrgt zu werden. Nach dieſen ſtuͤrmiſchen Auftritten folgten ruhigere Tage, an welchen ihn zwar die bisher geſchilderten Wahnvorſtellun¬ gen noch mannigfach beſchaͤftigten, es ihm jedoch geſtatteten, unter Begleitung im Freien ſpazieren zu gehen, ja er fing ſchon wieder an, Unterricht zu ertheilen. Indeß nach einigen Wochen ſteigerte ſich das nur zuruͤckgetretene Gemuͤthsleiden wieder bis zur heftigſten Tobſucht, welche ihn zu einem ge¬ waltſamen Ringen mit ſeinem Waͤrter antrieb, und von ihm ſelbſt fuͤr einen Anfall der Hundswuth gehalten wurde, wes¬ halb er ein lautes Hundegebell anhob, wobei ihm reichlicher Schleim aus dem Munde floß. In einer Nacht wurde er von einer Menge Viſionen ergoͤtzt, welche ganz die Lebendig¬ keit und Friſche wirklicher Anſchauungen hatten; er ſah ſchoͤne Gegenden, volkreiche Staͤdte, ferner einen mit 2 Roſſen be¬ ſpannten Wagen, auf welchem eine Heldengeſtalt, eine Gei¬ ßel ſchwingend aus dem Himmel auf die Erde herabſchwebte, u. dgl. Auch diesmal tobte ſich ſein Aufruhr in wenigen Tagen aus, und er erlangte ſo viele ſcheinbare Beſinnung, daß er zu einer Reiſe nach Berlin bewogen werden konnte, um bei einem hier wohnenden Bruder eine guͤnſtigere Gele¬ genheit zu ſeiner Wiederherſtellung zu finden. Wirklich ſchien er ſich in einem ſolchen Grade beruhigt zu haben, daß er die Sehenswuͤrdigkeiten der Reſidenz in Augenſchein nehmen konnte. Beſonders beſchaͤftigten ihn die Frescogemaͤlde im Koͤnigl. Mu¬ ſeum, welche ihm die Bemerkung aufdrangen, wir lebten in einer Zeit, worin faſt in allen Zweigen des geiſtigen Lebens die Gegenſaͤtze bis zur groͤßten Spannung gekommen ſeien, welche darauf hinwieſen, daß in der naͤchſten Zeit etwas ge¬ ſchehen muͤſſe, die extremen Gegenſaͤtze in eine hoͤhere Einheit zu bringen. So waren auch die Frescogemaͤlde Belaͤge fuͤr das erwachte Streben, die antike, heidniſche Kunſt mit der chriſtlichen zu verſchmelzen. Deshalb war er eifrig bemuͤht, die griechiſche Mythologie und die religioͤſen Vorſtellungen an¬ derer Voͤlker mit dem chriſtlichen Lehrgebaͤude in Einheit zu bringen, wobei die Lehren von den Engeln ihm den Dienſt der Vermittelung leiſten ſollten. Auch beſuchte er einige Vor¬

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Zitationshilfe: Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/213>, abgerufen am 10.06.2024.