Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.Menschenbrust zu werfen, und die wahre Bedeutung der in Die Anwendung dieser Bemerkungen auf den frommen Menſchenbruſt zu werfen, und die wahre Bedeutung der in Die Anwendung dieſer Bemerkungen auf den frommen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0022" n="14"/> Menſchenbruſt zu werfen, und die wahre Bedeutung der in<lb/> ihnen waltenden Vorgaͤnge zu erkennen. Eine ſolche Gelegen¬<lb/> heit bietet uns der Wahnſinn dar, welcher den Schleier der<lb/> wahren Geſinnung luͤftend, ſie noch dazu in ſo ſtarken Zuͤ¬<lb/> gen hervortreten laͤßt, daß ihr weſentlicher Charakter nicht laͤn¬<lb/> ger zweifelhaft bleiben kann. Denn der Geiſteskranke, wel¬<lb/> cher mit der Flucht aus dem wirklichen Leben auch die Mo¬<lb/> tive der in ihr herrſchenden Verſtellung vergeſſen hat, und ſich<lb/> in eine Traumwelt verſetzt, wo kein aͤußerer Zwang ſeinem<lb/> maͤchtigen Gefuͤhlsdrange angethan wird, giebt daher denſelben<lb/> auch in den unzweideutigſten Aeußerungen durch Wort, That<lb/> und Betragen vollſtaͤndig kund; er ſpricht Alles aus, was in<lb/> ihm vorgeht, ſein Hoffen und Fuͤrchten, ſein Lieben und Haſ¬<lb/> ſen, ſein Denken und Begehren, daher es nur der aufmerk¬<lb/> ſamen Beobachtung bedarf, um den Schluͤſſel zu allen Er¬<lb/> ſcheinungen zu finden. Zwar wirken auch auf ihn haͤufig ge¬<lb/> nug Beweggruͤnde zur Verſtellung, wohin namentlich ſeine<lb/> Verſetzung in eine Irrenanſtalt zu rechnen iſt, uͤber deren Zweck,<lb/> in ſofern er dadurch zu einer Sinnesaͤnderung bewogen wer¬<lb/> den ſoll, er meiſtentheils bald genug hinreichend ins Klare<lb/> kommt, um den ihn beherrſchenden Wahn moͤglichſt zu ver¬<lb/> hehlen, und eine ſcheinbare Beſonnenheit zu affectiren, mit<lb/> welcher er das Recht der Entlaſſung aus der Heilanſtalt gel¬<lb/> tend zu machen ſucht. Wer indeß nur einigermaaßen mit den<lb/> Eigenthuͤmlichkeiten der Geiſteskrankheiten durch laͤngere auf¬<lb/> merkſame Beobachtung ſich vertraut gemacht hat, durchſchaut<lb/> dieſe Verſtellung gewoͤhnlich bald, und weiß den Wahnſinni¬<lb/> gen zu beſtimmen, ſeine eigentliche Denkweiſe hervortreten<lb/> zu laſſen.</p><lb/> <p>Die Anwendung dieſer Bemerkungen auf den frommen<lb/> Wahn laͤßt uns die hohe Wichtigkeit ſeines Studiums fuͤr die<lb/> richtige Beurtheilung unſrer heiligſten Angelegenheiten deutlich<lb/> erkennen. Jede Epoche allgemein verbreiteter religioͤſer Aufre¬<lb/> gung muß als eine hoͤhere Entwickelungsſtufe des Volksthums<lb/> angeſehen werden, welches in ſeiner durch fortſchreitende Civi¬<lb/> liſation erweiterten Lebensanſchauung zu dem Bewußtſein der<lb/> Nothwendigkeit ihrer tieferen Begruͤndung durch eine gelaͤuterte<lb/> und veredelte religioͤſe Denkweiſe zu gelangen ſtrebt. Denn<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [14/0022]
Menſchenbruſt zu werfen, und die wahre Bedeutung der in
ihnen waltenden Vorgaͤnge zu erkennen. Eine ſolche Gelegen¬
heit bietet uns der Wahnſinn dar, welcher den Schleier der
wahren Geſinnung luͤftend, ſie noch dazu in ſo ſtarken Zuͤ¬
gen hervortreten laͤßt, daß ihr weſentlicher Charakter nicht laͤn¬
ger zweifelhaft bleiben kann. Denn der Geiſteskranke, wel¬
cher mit der Flucht aus dem wirklichen Leben auch die Mo¬
tive der in ihr herrſchenden Verſtellung vergeſſen hat, und ſich
in eine Traumwelt verſetzt, wo kein aͤußerer Zwang ſeinem
maͤchtigen Gefuͤhlsdrange angethan wird, giebt daher denſelben
auch in den unzweideutigſten Aeußerungen durch Wort, That
und Betragen vollſtaͤndig kund; er ſpricht Alles aus, was in
ihm vorgeht, ſein Hoffen und Fuͤrchten, ſein Lieben und Haſ¬
ſen, ſein Denken und Begehren, daher es nur der aufmerk¬
ſamen Beobachtung bedarf, um den Schluͤſſel zu allen Er¬
ſcheinungen zu finden. Zwar wirken auch auf ihn haͤufig ge¬
nug Beweggruͤnde zur Verſtellung, wohin namentlich ſeine
Verſetzung in eine Irrenanſtalt zu rechnen iſt, uͤber deren Zweck,
in ſofern er dadurch zu einer Sinnesaͤnderung bewogen wer¬
den ſoll, er meiſtentheils bald genug hinreichend ins Klare
kommt, um den ihn beherrſchenden Wahn moͤglichſt zu ver¬
hehlen, und eine ſcheinbare Beſonnenheit zu affectiren, mit
welcher er das Recht der Entlaſſung aus der Heilanſtalt gel¬
tend zu machen ſucht. Wer indeß nur einigermaaßen mit den
Eigenthuͤmlichkeiten der Geiſteskrankheiten durch laͤngere auf¬
merkſame Beobachtung ſich vertraut gemacht hat, durchſchaut
dieſe Verſtellung gewoͤhnlich bald, und weiß den Wahnſinni¬
gen zu beſtimmen, ſeine eigentliche Denkweiſe hervortreten
zu laſſen.
Die Anwendung dieſer Bemerkungen auf den frommen
Wahn laͤßt uns die hohe Wichtigkeit ſeines Studiums fuͤr die
richtige Beurtheilung unſrer heiligſten Angelegenheiten deutlich
erkennen. Jede Epoche allgemein verbreiteter religioͤſer Aufre¬
gung muß als eine hoͤhere Entwickelungsſtufe des Volksthums
angeſehen werden, welches in ſeiner durch fortſchreitende Civi¬
liſation erweiterten Lebensanſchauung zu dem Bewußtſein der
Nothwendigkeit ihrer tieferen Begruͤndung durch eine gelaͤuterte
und veredelte religioͤſe Denkweiſe zu gelangen ſtrebt. Denn
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |