Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.sorgfältig zu erforschen, und die wesentlichen Thatsachen aus¬ Einen vorzüglichen Werth erlangt der Wahnsinn als höch¬ ſorgfaͤltig zu erforſchen, und die weſentlichen Thatſachen aus¬ Einen vorzuͤglichen Werth erlangt der Wahnſinn als hoͤch¬ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0021" n="13"/> ſorgfaͤltig zu erforſchen, und die weſentlichen Thatſachen aus¬<lb/> zumitteln, deren organiſche Verbindung den urſpruͤnglichen Ent¬<lb/> wickelungsproceß des Wahnſinns zur unmittelbaren Darſtellung<lb/> bringt. Sie duͤrfen ſich freilich noch keiner fehlerfreien Me¬<lb/> thode der Beobachtung ruͤhmen, welche jede Moͤglichkeit der<lb/> ſubjectiven Taͤuſchung ausſchloͤſſe; iſt indeß nur erſt der An¬<lb/> fang damit gemacht, und dadurch wenigſtens in einzelnen Faͤl¬<lb/> len der Beweis gefuͤhrt worden, daß im Wahnſinn die inner¬<lb/> ſte Seelenverfaſſung zur aͤußeren, objectiv erkennbaren Erſchei¬<lb/> nung gelangt, ſo wird das dadurch eroberte neue Gebiet der<lb/> Wiſſenſchaft ſeine hochwichtige Bedeutung ſchon von ſelbſt gel¬<lb/> tend machen.</p><lb/> <p>Einen vorzuͤglichen Werth erlangt der Wahnſinn als hoͤch¬<lb/> ſte Entwickelungsſtufe der Leidenſchaften auch dadurch, daß er<lb/> ihre weſentliche Beſchaffenheit und ihre pſychologiſchen Verhaͤlt¬<lb/> niſſe im allergroͤßten Maaßſtabe zur Anſchauung bringt, und<lb/> dadurch ihre Erkenntniß ungemein erleichtert. Dieſer Vortheil<lb/> muß unſtreitig ſehr hoch angeſchlagen werden, da die Leiden¬<lb/> ſchaften wegen ihres verſteckten, hinterliſtigen Charakters mit<lb/> Recht uͤbel beruͤchtigt ſind, und eben deshalb einer gruͤndli¬<lb/> chen Forſchung ſich bisher ſo ſehr entzogen haben, daß uͤber<lb/> ſie noch die willkuͤrlichſten Anſichten herrſchen, deren Wider¬<lb/> ſtreit bisher durch keine aͤcht wiſſenſchaftliche Darſtellung aus¬<lb/> geglichen werden konnte. Denn jede Leidenſchaft ſtrebt ihre<lb/> uͤberſchwenglichen Zwecke auf Koſten aller uͤbrigen Intereſſen<lb/> zu erreichen, und ſie geraͤth dadurch in einen unvermeidlichen<lb/> Kampf mit Allen, deren Wohlfahrt ſie feindlich entgegentritt.<lb/> Leidenſchaftliche Menſchen bemuͤhen ſich daher, ihren wahren<lb/> Charakter ſorgfaͤltig hinter einer erkuͤnſtelten Geſinnung zu ver¬<lb/> bergen, um der Gegenwirkung Anderer moͤglichſt auszuweichen,<lb/> und ihre ganze zur Schau getragene Denk- und Handlungs¬<lb/> weiſe wird dadurch zu einem Luͤgengewebe, in welchem das<lb/> Aechte vom Falſchen zu unterſcheiden oft dem ſcharfſinnigſten<lb/> Menſchenkenner nicht gelingt. Je groͤßer die hieraus unver¬<lb/> meidlich entſpringenden Irrungen ſind, weil ein Jahr¬<lb/> hundert, ein Volk, ja jedes Individuum den uͤbrigen mehr<lb/> oder weniger zum Raͤthſel wird, um ſo willkommener muß<lb/> uns die Gelegenheit ſein, tiefe Blicke in die Geheimniſſe der<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [13/0021]
ſorgfaͤltig zu erforſchen, und die weſentlichen Thatſachen aus¬
zumitteln, deren organiſche Verbindung den urſpruͤnglichen Ent¬
wickelungsproceß des Wahnſinns zur unmittelbaren Darſtellung
bringt. Sie duͤrfen ſich freilich noch keiner fehlerfreien Me¬
thode der Beobachtung ruͤhmen, welche jede Moͤglichkeit der
ſubjectiven Taͤuſchung ausſchloͤſſe; iſt indeß nur erſt der An¬
fang damit gemacht, und dadurch wenigſtens in einzelnen Faͤl¬
len der Beweis gefuͤhrt worden, daß im Wahnſinn die inner¬
ſte Seelenverfaſſung zur aͤußeren, objectiv erkennbaren Erſchei¬
nung gelangt, ſo wird das dadurch eroberte neue Gebiet der
Wiſſenſchaft ſeine hochwichtige Bedeutung ſchon von ſelbſt gel¬
tend machen.
Einen vorzuͤglichen Werth erlangt der Wahnſinn als hoͤch¬
ſte Entwickelungsſtufe der Leidenſchaften auch dadurch, daß er
ihre weſentliche Beſchaffenheit und ihre pſychologiſchen Verhaͤlt¬
niſſe im allergroͤßten Maaßſtabe zur Anſchauung bringt, und
dadurch ihre Erkenntniß ungemein erleichtert. Dieſer Vortheil
muß unſtreitig ſehr hoch angeſchlagen werden, da die Leiden¬
ſchaften wegen ihres verſteckten, hinterliſtigen Charakters mit
Recht uͤbel beruͤchtigt ſind, und eben deshalb einer gruͤndli¬
chen Forſchung ſich bisher ſo ſehr entzogen haben, daß uͤber
ſie noch die willkuͤrlichſten Anſichten herrſchen, deren Wider¬
ſtreit bisher durch keine aͤcht wiſſenſchaftliche Darſtellung aus¬
geglichen werden konnte. Denn jede Leidenſchaft ſtrebt ihre
uͤberſchwenglichen Zwecke auf Koſten aller uͤbrigen Intereſſen
zu erreichen, und ſie geraͤth dadurch in einen unvermeidlichen
Kampf mit Allen, deren Wohlfahrt ſie feindlich entgegentritt.
Leidenſchaftliche Menſchen bemuͤhen ſich daher, ihren wahren
Charakter ſorgfaͤltig hinter einer erkuͤnſtelten Geſinnung zu ver¬
bergen, um der Gegenwirkung Anderer moͤglichſt auszuweichen,
und ihre ganze zur Schau getragene Denk- und Handlungs¬
weiſe wird dadurch zu einem Luͤgengewebe, in welchem das
Aechte vom Falſchen zu unterſcheiden oft dem ſcharfſinnigſten
Menſchenkenner nicht gelingt. Je groͤßer die hieraus unver¬
meidlich entſpringenden Irrungen ſind, weil ein Jahr¬
hundert, ein Volk, ja jedes Individuum den uͤbrigen mehr
oder weniger zum Raͤthſel wird, um ſo willkommener muß
uns die Gelegenheit ſein, tiefe Blicke in die Geheimniſſe der
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