Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.derst verkündet er mit furchtbarem Ernste die strenge Wahrheit, derſt verkuͤndet er mit furchtbarem Ernſte die ſtrenge Wahrheit, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0020" n="12"/> derſt verkuͤndet er mit furchtbarem Ernſte die ſtrenge Wahrheit,<lb/> daß der Menſch auch in ſeinem heiligſten Intereſſe <hi rendition="#g">Maaß<lb/> halten</hi> ſoll, daß er ungeachtet der Ueberſchwenglichkeit ſeines<lb/> Weſens an einen allmaͤhlig fortſchreitenden Entwickelungsgang<lb/> gebunden iſt, den er nicht im eigenmaͤchtigen Ungeſtuͤm uͤber¬<lb/> ſpringen darf, und daß er ſich daher das gemeſſene Walten<lb/> der Natur zum Muſter nehmen muß, welche ihre Welten er¬<lb/> zeugende Schoͤpferkraft nie aus den Schranken des Geſetzes<lb/> heraustreten laͤßt, und gerade ihre Vollkommenheit in der un¬<lb/> bedingteſten Uebereinſtimmung mit ſich ſelbſt offenbart. Frei¬<lb/> lich predigen Schwaͤrmerei und Fanatismus ganz dieſelbe Lehre,<lb/> und ihr Reich breitet ſich ſo weit uͤber die Erde aus, daß man<lb/> die Verirrungen des religioͤſen Bewußtſeins nicht erſt in Ir¬<lb/> renhaͤuſern aufzuſuchen braucht. Aber letztere bieten doch den<lb/> unſchaͤtzbaren Vortheil dar, daß in ihnen die wiſſenſchaftliche<lb/> Forſchung ſich mannigfacher wichtiger Huͤlfsmittel bedienen kann,<lb/> welche das oͤffentliche Leben ihr ſchlechthin verweigert. Denn<lb/> wer darf ſich in den buͤrgerlichen Verhaͤltniſſen unterſtehen,<lb/> diejenigen zur ſtrengen Rechenſchaft uͤber die geheime Geſchichte<lb/> ihrer Gedanken und Gefuͤhle zu ziehen, welche durch auffal¬<lb/> lende Oſtentation ihrer Froͤmmigkeit die allgemeine Aufmerk¬<lb/> ſamkeit auf ſich ziehen? Wie oft ſchwangt daher das Urtheil<lb/> der beſten Beobachter, ob das Gepraͤge des religioͤſen Eifers<lb/> aͤcht, oder ob es ein Blendwerk ſei, hinter welchem die Heu¬<lb/> chelei ganz andere Motive oft ſo geſchickt verbirgt, daß die<lb/> Entlarvung des Betruges entweder voͤllig mißlingt, oder nur<lb/> zum Theil bewirkt werden kann. Selbſt wenn uͤber die Lau¬<lb/> terkeit der Geſinnung kein Zweifel entſtehen kann, bleibt doch<lb/> ihre ganze Erſcheinungsweiſe zuweilen raͤthſelhaft, da ſich in<lb/> ihr Gewebe ſo manche fremdartige Faͤden heimlich hineinflech¬<lb/> ten, deren Urſprung man nicht kennt. Daher muß der Beobach¬<lb/> ter Vieles hinzudenken und interpretiren, und ſeine Auffaſſung<lb/> merkwuͤrdiger Charaktere iſt oft in einem ſo hohen Grade ſub¬<lb/> jectiv gehalten, daß ſich daraus die zahlloſen Widerſpruͤche un¬<lb/> ter den verſchiedenen Geſchichtsforſchern zur Genuͤge erklaͤren.<lb/> Die pſychiſchen Aerzte koͤnnen dieſe Klippe wenigſtens großen¬<lb/> theils vermeiden, da ihnen die beſte Gelegenheit zu Gebote<lb/> ſteht, das fruͤhere und gegenwaͤrtige Leben der Geiſteskranken<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [12/0020]
derſt verkuͤndet er mit furchtbarem Ernſte die ſtrenge Wahrheit,
daß der Menſch auch in ſeinem heiligſten Intereſſe Maaß
halten ſoll, daß er ungeachtet der Ueberſchwenglichkeit ſeines
Weſens an einen allmaͤhlig fortſchreitenden Entwickelungsgang
gebunden iſt, den er nicht im eigenmaͤchtigen Ungeſtuͤm uͤber¬
ſpringen darf, und daß er ſich daher das gemeſſene Walten
der Natur zum Muſter nehmen muß, welche ihre Welten er¬
zeugende Schoͤpferkraft nie aus den Schranken des Geſetzes
heraustreten laͤßt, und gerade ihre Vollkommenheit in der un¬
bedingteſten Uebereinſtimmung mit ſich ſelbſt offenbart. Frei¬
lich predigen Schwaͤrmerei und Fanatismus ganz dieſelbe Lehre,
und ihr Reich breitet ſich ſo weit uͤber die Erde aus, daß man
die Verirrungen des religioͤſen Bewußtſeins nicht erſt in Ir¬
renhaͤuſern aufzuſuchen braucht. Aber letztere bieten doch den
unſchaͤtzbaren Vortheil dar, daß in ihnen die wiſſenſchaftliche
Forſchung ſich mannigfacher wichtiger Huͤlfsmittel bedienen kann,
welche das oͤffentliche Leben ihr ſchlechthin verweigert. Denn
wer darf ſich in den buͤrgerlichen Verhaͤltniſſen unterſtehen,
diejenigen zur ſtrengen Rechenſchaft uͤber die geheime Geſchichte
ihrer Gedanken und Gefuͤhle zu ziehen, welche durch auffal¬
lende Oſtentation ihrer Froͤmmigkeit die allgemeine Aufmerk¬
ſamkeit auf ſich ziehen? Wie oft ſchwangt daher das Urtheil
der beſten Beobachter, ob das Gepraͤge des religioͤſen Eifers
aͤcht, oder ob es ein Blendwerk ſei, hinter welchem die Heu¬
chelei ganz andere Motive oft ſo geſchickt verbirgt, daß die
Entlarvung des Betruges entweder voͤllig mißlingt, oder nur
zum Theil bewirkt werden kann. Selbſt wenn uͤber die Lau¬
terkeit der Geſinnung kein Zweifel entſtehen kann, bleibt doch
ihre ganze Erſcheinungsweiſe zuweilen raͤthſelhaft, da ſich in
ihr Gewebe ſo manche fremdartige Faͤden heimlich hineinflech¬
ten, deren Urſprung man nicht kennt. Daher muß der Beobach¬
ter Vieles hinzudenken und interpretiren, und ſeine Auffaſſung
merkwuͤrdiger Charaktere iſt oft in einem ſo hohen Grade ſub¬
jectiv gehalten, daß ſich daraus die zahlloſen Widerſpruͤche un¬
ter den verſchiedenen Geſchichtsforſchern zur Genuͤge erklaͤren.
Die pſychiſchen Aerzte koͤnnen dieſe Klippe wenigſtens großen¬
theils vermeiden, da ihnen die beſte Gelegenheit zu Gebote
ſteht, das fruͤhere und gegenwaͤrtige Leben der Geiſteskranken
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