Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.Abgrundes befände, oder eine schwere Nacht ihr bevorstände, Aber es sollte bald anders kommen, da ein ihren frühe¬ Abgrundes befaͤnde, oder eine ſchwere Nacht ihr bevorſtaͤnde, Aber es ſollte bald anders kommen, da ein ihren fruͤhe¬ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0071" n="63"/> Abgrundes befaͤnde, oder eine ſchwere Nacht ihr bevorſtaͤnde,<lb/> ſuchte ſich aber zu faſſen, zumal da ſie vorher Gott angefleht<lb/> hatte, ſie vor Streit zu bewahren, weil ſie ihre Geneigtheit<lb/> dazu kannte. Nach der Verleſung jener Bibelſtellen erging<lb/> die Einladung an die Verſammlung: wer etwas dagegen ein¬<lb/> zuwenden habe, moͤge hervortreten. Dadurch fuͤhlte ſie ſich<lb/> veranlaßt, ihre erſte Erklaͤrung zu wiederholen: fruͤher waͤre<lb/> ſie vielleicht zur Taufe zu bewegen geweſen, jetzt nicht mehr.<lb/> Sie mußte hierauf die Bemerkung hoͤren: wenn nur erſt der<lb/> eigene Wille gebrochen waͤre, dann wuͤrde es ſchon anders<lb/> werden; indeß in ihrem freudigen Glaubenseifer fuͤhlte ſie ſich<lb/> dadurch keineswegs eingeſchuͤchtert. Mehrere Anweſende um¬<lb/> ringten ſie darauf, und ſprachen liebkoſend zu ihr: „ach, Sie<lb/> wollen ja doch den Herrn lieben, entſchließen Sie ſich doch<lb/> dazu.” Dieſer Auftritt kam ihr kindiſch und laͤcherlich vor;<lb/> und als ihr emphatiſch geſagt worden war: „Nichts koͤnnen,<lb/> Nichts wiſſen, Nichts wollen, Nichts thun, als Jeſu folgen<lb/> muͤſſen, das heißt in Freuden ruhn”, ſah ſie ſich genoͤthigt<lb/> zu der Erklaͤrung: „Und wenn Jemand zwanzigmal getauft<lb/> wird, ſo hilft ihm dies Nichts, wenn ſein Herz nicht anders<lb/> wird.” Man ſuchte ſie durch allerhand ſophiſtiſche Redewen¬<lb/> dungen in Verlegenheit zu ſetzen; namentlich bemerkte einer<lb/> der Anweſenden gegen ſie: „Sie wollen es nicht gut haben,<lb/> nicht zu dem Herrn gelangen”, worauf ſie ihm erwiederte:<lb/> „Sie ſind nicht allwiſſend.” Ferner nahm derſelbe in ſeinen<lb/> Anſpruͤchen an ſie einen ſehr pathetiſchen, dominirenden Ton<lb/> an, ſo daß ſie nochmals zu der Erklaͤrung ſich genoͤthigt ſah,<lb/> ſie laſſe ſich nicht zwingen. Einen tiefen Eindruck machte es<lb/> aber auf ſie, als einer der Anweſenden ihre Hand ergriff,<lb/> und ſie ſtark an ſeine Bruſt druͤckte; denn es war ihr, als<lb/> ob ihr Geiſt im Innerſten getroffen wuͤrde. Indem ſie zur<lb/> Thuͤre hinausging, rief man ihr nach, ſie werde keine Ruhe<lb/> haben; jedoch ſie empfand eine große Freudigkeit im Gemuͤth.</p><lb/> <p>Aber es ſollte bald anders kommen, da ein ihren fruͤhe¬<lb/> ren myſtiſchen Contemplationen nur allzu nahe verwandter Geiſt<lb/> der Schwaͤrmerei ſie ſchon im Innerſten ergriffen hatte. Am<lb/> naͤchſten Pfingſttage hoͤrte ſie eine evangeliſche Predigt, deren<lb/> weſentlicher Inhalt ſo von ihr aufgefaßt wurde, daß eine<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [63/0071]
Abgrundes befaͤnde, oder eine ſchwere Nacht ihr bevorſtaͤnde,
ſuchte ſich aber zu faſſen, zumal da ſie vorher Gott angefleht
hatte, ſie vor Streit zu bewahren, weil ſie ihre Geneigtheit
dazu kannte. Nach der Verleſung jener Bibelſtellen erging
die Einladung an die Verſammlung: wer etwas dagegen ein¬
zuwenden habe, moͤge hervortreten. Dadurch fuͤhlte ſie ſich
veranlaßt, ihre erſte Erklaͤrung zu wiederholen: fruͤher waͤre
ſie vielleicht zur Taufe zu bewegen geweſen, jetzt nicht mehr.
Sie mußte hierauf die Bemerkung hoͤren: wenn nur erſt der
eigene Wille gebrochen waͤre, dann wuͤrde es ſchon anders
werden; indeß in ihrem freudigen Glaubenseifer fuͤhlte ſie ſich
dadurch keineswegs eingeſchuͤchtert. Mehrere Anweſende um¬
ringten ſie darauf, und ſprachen liebkoſend zu ihr: „ach, Sie
wollen ja doch den Herrn lieben, entſchließen Sie ſich doch
dazu.” Dieſer Auftritt kam ihr kindiſch und laͤcherlich vor;
und als ihr emphatiſch geſagt worden war: „Nichts koͤnnen,
Nichts wiſſen, Nichts wollen, Nichts thun, als Jeſu folgen
muͤſſen, das heißt in Freuden ruhn”, ſah ſie ſich genoͤthigt
zu der Erklaͤrung: „Und wenn Jemand zwanzigmal getauft
wird, ſo hilft ihm dies Nichts, wenn ſein Herz nicht anders
wird.” Man ſuchte ſie durch allerhand ſophiſtiſche Redewen¬
dungen in Verlegenheit zu ſetzen; namentlich bemerkte einer
der Anweſenden gegen ſie: „Sie wollen es nicht gut haben,
nicht zu dem Herrn gelangen”, worauf ſie ihm erwiederte:
„Sie ſind nicht allwiſſend.” Ferner nahm derſelbe in ſeinen
Anſpruͤchen an ſie einen ſehr pathetiſchen, dominirenden Ton
an, ſo daß ſie nochmals zu der Erklaͤrung ſich genoͤthigt ſah,
ſie laſſe ſich nicht zwingen. Einen tiefen Eindruck machte es
aber auf ſie, als einer der Anweſenden ihre Hand ergriff,
und ſie ſtark an ſeine Bruſt druͤckte; denn es war ihr, als
ob ihr Geiſt im Innerſten getroffen wuͤrde. Indem ſie zur
Thuͤre hinausging, rief man ihr nach, ſie werde keine Ruhe
haben; jedoch ſie empfand eine große Freudigkeit im Gemuͤth.
Aber es ſollte bald anders kommen, da ein ihren fruͤhe¬
ren myſtiſchen Contemplationen nur allzu nahe verwandter Geiſt
der Schwaͤrmerei ſie ſchon im Innerſten ergriffen hatte. Am
naͤchſten Pfingſttage hoͤrte ſie eine evangeliſche Predigt, deren
weſentlicher Inhalt ſo von ihr aufgefaßt wurde, daß eine
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