Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.

Bild:
<< vorherige Seite

würdige Feier jenes Festes begangen werde, wenn Christen sich
versammelten, um sich auf ihren allerheiligsten Glauben zu er¬
bauen. Die W. war kurz zuvor von den Wiedertäufern ein¬
geladen worden, einem am zweiten Pfingstabende zu begehen¬
den Liebesmahle beizuwohnen, empfand aber dabei eine große
Bedenklichkeit, weshalb sie nur darauf erwiedern konnte: so
Gott will. Jene Pfingstpredigt wurde ihr aber um so mehr
eine Aufforderung, an dem Liebesmahle Theil zu nehmen, als
auch eine Frau, gegen welche sie ihre Zweifel geäußert hatte,
ihr erwiederte, sie würde durch das Ausbleiben eine Sünde
begehen. Sie begab sich daher zur bezeichneten Stunde auf
den Weg, fühlte sich aber in einem hohen Grade betroffen,
als ihr eine innere Stimme zurief, sie werde gefangen genom¬
men werden. Schnell entschlossen umzukehren, empfand sie zu
ihrer großen Bestürzung einen unwiderstehlichen Zug nach dem
Versammlungshause der Wiedertäufer, so daß ihr Inneres ein
wahrer Kampfplatz widerstreitender Antriebe wurde, welche ih¬
rer Meinung nach von aussen in sie eingedrungen waren. In
diesem Spiel contrastirender Gefühle sprach sich unstreitig das
ohnmächtige Ringen der Besonnenheit mit den unwiderstehli¬
chen Impulsen der Schwärmerei aus, worüber sie so wenig in
einem deutlichen Bewußtsein sich aufklären konnte, daß ihr
der ganze Vorgang in dem mystischen Lichte übernatürlicher
Einwirkungen erschien. Das Liebesmahl selbst wurde durch
Gesang unter Begleitung einer Violine und eines Fortepiano's
eröffnet, und es folgte darauf der Genuß von Kuchen und
Thee, während eine freiere Unterhaltung sich entspann, bei
welcher man besonders ihre früheren Erlebnisse auszuspähen
suchte. Sie war nun schon dergestalt befangen in ihren neuen
Gefühlsregungen, daß sie wenigstens an diesem Abende eine
große Seeligkeit empfand. In ähnlicher Weise freudig erregt
war sie an einem späteren Feste, wo die Kinder der Ana¬
baptisten der versammelten Gemeinde vorgestellt, und unter
Gesang und Gebet unter Auflegung der Hände gesegnet wur¬
den. Wirklich mochte diese Scene einen idyllisch patriarcha¬
lischen Charakter angenommen haben.

Indeß so leicht konnte ihre bisherige Gemüthsrichtung,
in welche sie sich seit vielen Jahren mit Eifer und Anstren¬

wuͤrdige Feier jenes Feſtes begangen werde, wenn Chriſten ſich
verſammelten, um ſich auf ihren allerheiligſten Glauben zu er¬
bauen. Die W. war kurz zuvor von den Wiedertaͤufern ein¬
geladen worden, einem am zweiten Pfingſtabende zu begehen¬
den Liebesmahle beizuwohnen, empfand aber dabei eine große
Bedenklichkeit, weshalb ſie nur darauf erwiedern konnte: ſo
Gott will. Jene Pfingſtpredigt wurde ihr aber um ſo mehr
eine Aufforderung, an dem Liebesmahle Theil zu nehmen, als
auch eine Frau, gegen welche ſie ihre Zweifel geaͤußert hatte,
ihr erwiederte, ſie wuͤrde durch das Ausbleiben eine Suͤnde
begehen. Sie begab ſich daher zur bezeichneten Stunde auf
den Weg, fuͤhlte ſich aber in einem hohen Grade betroffen,
als ihr eine innere Stimme zurief, ſie werde gefangen genom¬
men werden. Schnell entſchloſſen umzukehren, empfand ſie zu
ihrer großen Beſtuͤrzung einen unwiderſtehlichen Zug nach dem
Verſammlungshauſe der Wiedertaͤufer, ſo daß ihr Inneres ein
wahrer Kampfplatz widerſtreitender Antriebe wurde, welche ih¬
rer Meinung nach von auſſen in ſie eingedrungen waren. In
dieſem Spiel contraſtirender Gefuͤhle ſprach ſich unſtreitig das
ohnmaͤchtige Ringen der Beſonnenheit mit den unwiderſtehli¬
chen Impulſen der Schwaͤrmerei aus, woruͤber ſie ſo wenig in
einem deutlichen Bewußtſein ſich aufklaͤren konnte, daß ihr
der ganze Vorgang in dem myſtiſchen Lichte uͤbernatuͤrlicher
Einwirkungen erſchien. Das Liebesmahl ſelbſt wurde durch
Geſang unter Begleitung einer Violine und eines Fortepiano's
eroͤffnet, und es folgte darauf der Genuß von Kuchen und
Thee, waͤhrend eine freiere Unterhaltung ſich entſpann, bei
welcher man beſonders ihre fruͤheren Erlebniſſe auszuſpaͤhen
ſuchte. Sie war nun ſchon dergeſtalt befangen in ihren neuen
Gefuͤhlsregungen, daß ſie wenigſtens an dieſem Abende eine
große Seeligkeit empfand. In aͤhnlicher Weiſe freudig erregt
war ſie an einem ſpaͤteren Feſte, wo die Kinder der Ana¬
baptiſten der verſammelten Gemeinde vorgeſtellt, und unter
Geſang und Gebet unter Auflegung der Haͤnde geſegnet wur¬
den. Wirklich mochte dieſe Scene einen idylliſch patriarcha¬
liſchen Charakter angenommen haben.

Indeß ſo leicht konnte ihre bisherige Gemuͤthsrichtung,
in welche ſie ſich ſeit vielen Jahren mit Eifer und Anſtren¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0072" n="64"/>
wu&#x0364;rdige Feier jenes Fe&#x017F;tes begangen werde, wenn Chri&#x017F;ten &#x017F;ich<lb/>
ver&#x017F;ammelten, um &#x017F;ich auf ihren allerheilig&#x017F;ten Glauben zu er¬<lb/>
bauen. Die W. war kurz zuvor von den Wiederta&#x0364;ufern ein¬<lb/>
geladen worden, einem am zweiten Pfing&#x017F;tabende zu begehen¬<lb/>
den Liebesmahle beizuwohnen, empfand aber dabei eine große<lb/>
Bedenklichkeit, weshalb &#x017F;ie nur darauf erwiedern konnte: &#x017F;o<lb/>
Gott will. Jene Pfing&#x017F;tpredigt wurde ihr aber um &#x017F;o mehr<lb/>
eine Aufforderung, an dem Liebesmahle Theil zu nehmen, als<lb/>
auch eine Frau, gegen welche &#x017F;ie ihre Zweifel gea&#x0364;ußert hatte,<lb/>
ihr erwiederte, &#x017F;ie wu&#x0364;rde durch das Ausbleiben eine Su&#x0364;nde<lb/>
begehen. Sie begab &#x017F;ich daher zur bezeichneten Stunde auf<lb/>
den Weg, fu&#x0364;hlte &#x017F;ich aber in einem hohen Grade betroffen,<lb/>
als ihr eine innere Stimme zurief, &#x017F;ie werde gefangen genom¬<lb/>
men werden. Schnell ent&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en umzukehren, empfand &#x017F;ie zu<lb/>
ihrer großen Be&#x017F;tu&#x0364;rzung einen unwider&#x017F;tehlichen Zug nach dem<lb/>
Ver&#x017F;ammlungshau&#x017F;e der Wiederta&#x0364;ufer, &#x017F;o daß ihr Inneres ein<lb/>
wahrer Kampfplatz wider&#x017F;treitender Antriebe wurde, welche ih¬<lb/>
rer Meinung nach von au&#x017F;&#x017F;en in &#x017F;ie eingedrungen waren. In<lb/>
die&#x017F;em Spiel contra&#x017F;tirender Gefu&#x0364;hle &#x017F;prach &#x017F;ich un&#x017F;treitig das<lb/>
ohnma&#x0364;chtige Ringen der Be&#x017F;onnenheit mit den unwider&#x017F;tehli¬<lb/>
chen Impul&#x017F;en der Schwa&#x0364;rmerei aus, woru&#x0364;ber &#x017F;ie &#x017F;o wenig in<lb/>
einem deutlichen Bewußt&#x017F;ein &#x017F;ich aufkla&#x0364;ren konnte, daß ihr<lb/>
der ganze Vorgang in dem my&#x017F;ti&#x017F;chen Lichte u&#x0364;bernatu&#x0364;rlicher<lb/>
Einwirkungen er&#x017F;chien. Das Liebesmahl &#x017F;elb&#x017F;t wurde durch<lb/>
Ge&#x017F;ang unter Begleitung einer Violine und eines Fortepiano's<lb/>
ero&#x0364;ffnet, und es folgte darauf der Genuß von Kuchen und<lb/>
Thee, wa&#x0364;hrend eine freiere Unterhaltung &#x017F;ich ent&#x017F;pann, bei<lb/>
welcher man be&#x017F;onders ihre fru&#x0364;heren Erlebni&#x017F;&#x017F;e auszu&#x017F;pa&#x0364;hen<lb/>
&#x017F;uchte. Sie war nun &#x017F;chon derge&#x017F;talt befangen in ihren neuen<lb/>
Gefu&#x0364;hlsregungen, daß &#x017F;ie wenig&#x017F;tens an die&#x017F;em Abende eine<lb/>
große Seeligkeit empfand. In a&#x0364;hnlicher Wei&#x017F;e freudig erregt<lb/>
war &#x017F;ie an einem &#x017F;pa&#x0364;teren Fe&#x017F;te, wo die Kinder der Ana¬<lb/>
bapti&#x017F;ten der ver&#x017F;ammelten Gemeinde vorge&#x017F;tellt, und unter<lb/>
Ge&#x017F;ang und Gebet unter Auflegung der Ha&#x0364;nde ge&#x017F;egnet wur¬<lb/>
den. Wirklich mochte die&#x017F;e Scene einen idylli&#x017F;ch patriarcha¬<lb/>
li&#x017F;chen Charakter angenommen haben.</p><lb/>
        <p>Indeß &#x017F;o leicht konnte ihre bisherige Gemu&#x0364;thsrichtung,<lb/>
in welche &#x017F;ie &#x017F;ich &#x017F;eit vielen Jahren mit Eifer und An&#x017F;tren¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[64/0072] wuͤrdige Feier jenes Feſtes begangen werde, wenn Chriſten ſich verſammelten, um ſich auf ihren allerheiligſten Glauben zu er¬ bauen. Die W. war kurz zuvor von den Wiedertaͤufern ein¬ geladen worden, einem am zweiten Pfingſtabende zu begehen¬ den Liebesmahle beizuwohnen, empfand aber dabei eine große Bedenklichkeit, weshalb ſie nur darauf erwiedern konnte: ſo Gott will. Jene Pfingſtpredigt wurde ihr aber um ſo mehr eine Aufforderung, an dem Liebesmahle Theil zu nehmen, als auch eine Frau, gegen welche ſie ihre Zweifel geaͤußert hatte, ihr erwiederte, ſie wuͤrde durch das Ausbleiben eine Suͤnde begehen. Sie begab ſich daher zur bezeichneten Stunde auf den Weg, fuͤhlte ſich aber in einem hohen Grade betroffen, als ihr eine innere Stimme zurief, ſie werde gefangen genom¬ men werden. Schnell entſchloſſen umzukehren, empfand ſie zu ihrer großen Beſtuͤrzung einen unwiderſtehlichen Zug nach dem Verſammlungshauſe der Wiedertaͤufer, ſo daß ihr Inneres ein wahrer Kampfplatz widerſtreitender Antriebe wurde, welche ih¬ rer Meinung nach von auſſen in ſie eingedrungen waren. In dieſem Spiel contraſtirender Gefuͤhle ſprach ſich unſtreitig das ohnmaͤchtige Ringen der Beſonnenheit mit den unwiderſtehli¬ chen Impulſen der Schwaͤrmerei aus, woruͤber ſie ſo wenig in einem deutlichen Bewußtſein ſich aufklaͤren konnte, daß ihr der ganze Vorgang in dem myſtiſchen Lichte uͤbernatuͤrlicher Einwirkungen erſchien. Das Liebesmahl ſelbſt wurde durch Geſang unter Begleitung einer Violine und eines Fortepiano's eroͤffnet, und es folgte darauf der Genuß von Kuchen und Thee, waͤhrend eine freiere Unterhaltung ſich entſpann, bei welcher man beſonders ihre fruͤheren Erlebniſſe auszuſpaͤhen ſuchte. Sie war nun ſchon dergeſtalt befangen in ihren neuen Gefuͤhlsregungen, daß ſie wenigſtens an dieſem Abende eine große Seeligkeit empfand. In aͤhnlicher Weiſe freudig erregt war ſie an einem ſpaͤteren Feſte, wo die Kinder der Ana¬ baptiſten der verſammelten Gemeinde vorgeſtellt, und unter Geſang und Gebet unter Auflegung der Haͤnde geſegnet wur¬ den. Wirklich mochte dieſe Scene einen idylliſch patriarcha¬ liſchen Charakter angenommen haben. Indeß ſo leicht konnte ihre bisherige Gemuͤthsrichtung, in welche ſie ſich ſeit vielen Jahren mit Eifer und Anſtren¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/72
Zitationshilfe: Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/72>, abgerufen am 26.11.2024.