zornigen Gebärden auf ihn, um ihn von dem Katheder herab¬ zureißen und mit Schlägen zu mißhandeln. Es entstand ein fürchterlicher Tumult, der Katheder und die Bänke wurden zerbrochen, und so war das Signal zu einer allgemeinen Schlä¬ gerei gegeben, welche damit endete, daß der wilde Haufe sich gegenseitig von der Treppe herabwarf. An allen Gliedern zit¬ ternd, entfloh die W. noch unangefochten; aber natürlich em¬ pfand sie kein Verlangen, sich der Gemeinde sobald wieder anzuschließen, zumal da sie durch jenen Vorgang so tief er¬ schüttert wurde, daß sie sich mehrere Tage sehr leidend befand. Durch ihr Ausbleiben zog sie sich aber wieder mannigfache Schmähungen zu, sie habe die Gemeinde feige verlassen, und sich kreuzesscheu gezeigt. Jener Schneider, welcher sie auf ihrer Flucht begleitet hatte, warf sich zu ihrer Vertheidigung auf, daß sie als eine Schwache nicht habe Widerstand leisten können, fand aber so wenig Gehör, daß er empört über viel¬ fach erlebte Schlechtigkeiten einzelner Sectenmitglieder, an ei¬ nem der nächsten Abende, als man ihn zum Gebet aufforderte, in die Worte ausbrach: "Herr, treibe die Falschheit aus der Gemeinde aus!" Allgemeine Bestürzung verbreitete sich in der Versammlung, welche Anfangs unfähig war, den auf sie ge¬ worfenen strengen Tadel zurückzuweisen. Bald aber entspann sich ein heftiger Streit, in welchem der Schneider mehrere der angezettelten Intriguen aufdeckte. Es würde zu weit führen, alle ärgerlichen Auftritte, welche eine natürliche Folge davon waren, zu erzählen; sie lassen sich nach dem bisher Mitgetheil¬ ten leicht errathen, da eine unter heuchlerischer Frömmigkeit versteckte niedrige Gesinnung in ihrer ganzen Häßlichkeit her¬ vortritt, wenn ihr der Schleier abgerissen wird.
Die W., welche niemals durch ein inniges Vertrauen an ihre Glaubensgenossen gefesselt war, konnte sich durch alle diese Vorgänge nur immer mehr zurückgestoßen fühlen. Im¬ mer lebendiger wurde in ihr die Ueberzeugung, daß man ih¬ ren wahren Glauben angefeindet, daß man sie von Gott los¬ gerissen habe, um ihr ganz falsche Satzungen aufzudringen, daß der Gemeinde nur die Schwachen am Geiste willkommen seien, welche sich wie eine Schaafheerde willenlos leiten lie¬ ßen; namentlich hatte sie einen der Angesehensten in Verdacht,
zornigen Gebaͤrden auf ihn, um ihn von dem Katheder herab¬ zureißen und mit Schlaͤgen zu mißhandeln. Es entſtand ein fuͤrchterlicher Tumult, der Katheder und die Baͤnke wurden zerbrochen, und ſo war das Signal zu einer allgemeinen Schlaͤ¬ gerei gegeben, welche damit endete, daß der wilde Haufe ſich gegenſeitig von der Treppe herabwarf. An allen Gliedern zit¬ ternd, entfloh die W. noch unangefochten; aber natuͤrlich em¬ pfand ſie kein Verlangen, ſich der Gemeinde ſobald wieder anzuſchließen, zumal da ſie durch jenen Vorgang ſo tief er¬ ſchuͤttert wurde, daß ſie ſich mehrere Tage ſehr leidend befand. Durch ihr Ausbleiben zog ſie ſich aber wieder mannigfache Schmaͤhungen zu, ſie habe die Gemeinde feige verlaſſen, und ſich kreuzesſcheu gezeigt. Jener Schneider, welcher ſie auf ihrer Flucht begleitet hatte, warf ſich zu ihrer Vertheidigung auf, daß ſie als eine Schwache nicht habe Widerſtand leiſten koͤnnen, fand aber ſo wenig Gehoͤr, daß er empoͤrt uͤber viel¬ fach erlebte Schlechtigkeiten einzelner Sectenmitglieder, an ei¬ nem der naͤchſten Abende, als man ihn zum Gebet aufforderte, in die Worte ausbrach: „Herr, treibe die Falſchheit aus der Gemeinde aus!” Allgemeine Beſtuͤrzung verbreitete ſich in der Verſammlung, welche Anfangs unfaͤhig war, den auf ſie ge¬ worfenen ſtrengen Tadel zuruͤckzuweiſen. Bald aber entſpann ſich ein heftiger Streit, in welchem der Schneider mehrere der angezettelten Intriguen aufdeckte. Es wuͤrde zu weit fuͤhren, alle aͤrgerlichen Auftritte, welche eine natuͤrliche Folge davon waren, zu erzaͤhlen; ſie laſſen ſich nach dem bisher Mitgetheil¬ ten leicht errathen, da eine unter heuchleriſcher Froͤmmigkeit verſteckte niedrige Geſinnung in ihrer ganzen Haͤßlichkeit her¬ vortritt, wenn ihr der Schleier abgeriſſen wird.
Die W., welche niemals durch ein inniges Vertrauen an ihre Glaubensgenoſſen gefeſſelt war, konnte ſich durch alle dieſe Vorgaͤnge nur immer mehr zuruͤckgeſtoßen fuͤhlen. Im¬ mer lebendiger wurde in ihr die Ueberzeugung, daß man ih¬ ren wahren Glauben angefeindet, daß man ſie von Gott los¬ geriſſen habe, um ihr ganz falſche Satzungen aufzudringen, daß der Gemeinde nur die Schwachen am Geiſte willkommen ſeien, welche ſich wie eine Schaafheerde willenlos leiten lie¬ ßen; namentlich hatte ſie einen der Angeſehenſten in Verdacht,
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zornigen Gebaͤrden auf ihn, um ihn von dem Katheder herab¬
zureißen und mit Schlaͤgen zu mißhandeln. Es entſtand ein
fuͤrchterlicher Tumult, der Katheder und die Baͤnke wurden
zerbrochen, und ſo war das Signal zu einer allgemeinen Schlaͤ¬
gerei gegeben, welche damit endete, daß der wilde Haufe ſich
gegenſeitig von der Treppe herabwarf. An allen Gliedern zit¬
ternd, entfloh die W. noch unangefochten; aber natuͤrlich em¬
pfand ſie kein Verlangen, ſich der Gemeinde ſobald wieder
anzuſchließen, zumal da ſie durch jenen Vorgang ſo tief er¬
ſchuͤttert wurde, daß ſie ſich mehrere Tage ſehr leidend befand.
Durch ihr Ausbleiben zog ſie ſich aber wieder mannigfache
Schmaͤhungen zu, ſie habe die Gemeinde feige verlaſſen, und
ſich kreuzesſcheu gezeigt. Jener Schneider, welcher ſie auf
ihrer Flucht begleitet hatte, warf ſich zu ihrer Vertheidigung
auf, daß ſie als eine Schwache nicht habe Widerſtand leiſten
koͤnnen, fand aber ſo wenig Gehoͤr, daß er empoͤrt uͤber viel¬
fach erlebte Schlechtigkeiten einzelner Sectenmitglieder, an ei¬
nem der naͤchſten Abende, als man ihn zum Gebet aufforderte,
in die Worte ausbrach: „Herr, treibe die Falſchheit aus der
Gemeinde aus!” Allgemeine Beſtuͤrzung verbreitete ſich in der
Verſammlung, welche Anfangs unfaͤhig war, den auf ſie ge¬
worfenen ſtrengen Tadel zuruͤckzuweiſen. Bald aber entſpann
ſich ein heftiger Streit, in welchem der Schneider mehrere der
angezettelten Intriguen aufdeckte. Es wuͤrde zu weit fuͤhren,
alle aͤrgerlichen Auftritte, welche eine natuͤrliche Folge davon
waren, zu erzaͤhlen; ſie laſſen ſich nach dem bisher Mitgetheil¬
ten leicht errathen, da eine unter heuchleriſcher Froͤmmigkeit
verſteckte niedrige Geſinnung in ihrer ganzen Haͤßlichkeit her¬
vortritt, wenn ihr der Schleier abgeriſſen wird.
Die W., welche niemals durch ein inniges Vertrauen
an ihre Glaubensgenoſſen gefeſſelt war, konnte ſich durch alle
dieſe Vorgaͤnge nur immer mehr zuruͤckgeſtoßen fuͤhlen. Im¬
mer lebendiger wurde in ihr die Ueberzeugung, daß man ih¬
ren wahren Glauben angefeindet, daß man ſie von Gott los¬
geriſſen habe, um ihr ganz falſche Satzungen aufzudringen,
daß der Gemeinde nur die Schwachen am Geiſte willkommen
ſeien, welche ſich wie eine Schaafheerde willenlos leiten lie¬
ßen; namentlich hatte ſie einen der Angeſehenſten in Verdacht,
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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/79>, abgerufen am 18.06.2024.
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