Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.zornigen Gebärden auf ihn, um ihn von dem Katheder herab¬ Die W., welche niemals durch ein inniges Vertrauen zornigen Gebaͤrden auf ihn, um ihn von dem Katheder herab¬ Die W., welche niemals durch ein inniges Vertrauen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0079" n="71"/> zornigen Gebaͤrden auf ihn, um ihn von dem Katheder herab¬<lb/> zureißen und mit Schlaͤgen zu mißhandeln. Es entſtand ein<lb/> fuͤrchterlicher Tumult, der Katheder und die Baͤnke wurden<lb/> zerbrochen, und ſo war das Signal zu einer allgemeinen Schlaͤ¬<lb/> gerei gegeben, welche damit endete, daß der wilde Haufe ſich<lb/> gegenſeitig von der Treppe herabwarf. An allen Gliedern zit¬<lb/> ternd, entfloh die W. noch unangefochten; aber natuͤrlich em¬<lb/> pfand ſie kein Verlangen, ſich der Gemeinde ſobald wieder<lb/> anzuſchließen, zumal da ſie durch jenen Vorgang ſo tief er¬<lb/> ſchuͤttert wurde, daß ſie ſich mehrere Tage ſehr leidend befand.<lb/> Durch ihr Ausbleiben zog ſie ſich aber wieder mannigfache<lb/> Schmaͤhungen zu, ſie habe die Gemeinde feige verlaſſen, und<lb/> ſich <hi rendition="#g">kreuzesſcheu</hi> gezeigt. Jener Schneider, welcher ſie auf<lb/> ihrer Flucht begleitet hatte, warf ſich zu ihrer Vertheidigung<lb/> auf, daß ſie als eine Schwache nicht habe Widerſtand leiſten<lb/> koͤnnen, fand aber ſo wenig Gehoͤr, daß er empoͤrt uͤber viel¬<lb/> fach erlebte Schlechtigkeiten einzelner Sectenmitglieder, an ei¬<lb/> nem der naͤchſten Abende, als man ihn zum Gebet aufforderte,<lb/> in die Worte ausbrach: „Herr, treibe die Falſchheit aus der<lb/> Gemeinde aus!” Allgemeine Beſtuͤrzung verbreitete ſich in der<lb/> Verſammlung, welche Anfangs unfaͤhig war, den auf ſie ge¬<lb/> worfenen ſtrengen Tadel zuruͤckzuweiſen. Bald aber entſpann<lb/> ſich ein heftiger Streit, in welchem der Schneider mehrere der<lb/> angezettelten Intriguen aufdeckte. Es wuͤrde zu weit fuͤhren,<lb/> alle aͤrgerlichen Auftritte, welche eine natuͤrliche Folge davon<lb/> waren, zu erzaͤhlen; ſie laſſen ſich nach dem bisher Mitgetheil¬<lb/> ten leicht errathen, da eine unter heuchleriſcher Froͤmmigkeit<lb/> verſteckte niedrige Geſinnung in ihrer ganzen Haͤßlichkeit her¬<lb/> vortritt, wenn ihr der Schleier abgeriſſen wird.</p><lb/> <p>Die W., welche niemals durch ein inniges Vertrauen<lb/> an ihre Glaubensgenoſſen gefeſſelt war, konnte ſich durch alle<lb/> dieſe Vorgaͤnge nur immer mehr zuruͤckgeſtoßen fuͤhlen. Im¬<lb/> mer lebendiger wurde in ihr die Ueberzeugung, daß man ih¬<lb/> ren wahren Glauben angefeindet, daß man ſie von Gott los¬<lb/> geriſſen habe, um ihr ganz falſche Satzungen aufzudringen,<lb/> daß der Gemeinde nur die Schwachen am Geiſte willkommen<lb/> ſeien, welche ſich wie eine Schaafheerde willenlos leiten lie¬<lb/> ßen; namentlich hatte ſie einen der Angeſehenſten in Verdacht,<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [71/0079]
zornigen Gebaͤrden auf ihn, um ihn von dem Katheder herab¬
zureißen und mit Schlaͤgen zu mißhandeln. Es entſtand ein
fuͤrchterlicher Tumult, der Katheder und die Baͤnke wurden
zerbrochen, und ſo war das Signal zu einer allgemeinen Schlaͤ¬
gerei gegeben, welche damit endete, daß der wilde Haufe ſich
gegenſeitig von der Treppe herabwarf. An allen Gliedern zit¬
ternd, entfloh die W. noch unangefochten; aber natuͤrlich em¬
pfand ſie kein Verlangen, ſich der Gemeinde ſobald wieder
anzuſchließen, zumal da ſie durch jenen Vorgang ſo tief er¬
ſchuͤttert wurde, daß ſie ſich mehrere Tage ſehr leidend befand.
Durch ihr Ausbleiben zog ſie ſich aber wieder mannigfache
Schmaͤhungen zu, ſie habe die Gemeinde feige verlaſſen, und
ſich kreuzesſcheu gezeigt. Jener Schneider, welcher ſie auf
ihrer Flucht begleitet hatte, warf ſich zu ihrer Vertheidigung
auf, daß ſie als eine Schwache nicht habe Widerſtand leiſten
koͤnnen, fand aber ſo wenig Gehoͤr, daß er empoͤrt uͤber viel¬
fach erlebte Schlechtigkeiten einzelner Sectenmitglieder, an ei¬
nem der naͤchſten Abende, als man ihn zum Gebet aufforderte,
in die Worte ausbrach: „Herr, treibe die Falſchheit aus der
Gemeinde aus!” Allgemeine Beſtuͤrzung verbreitete ſich in der
Verſammlung, welche Anfangs unfaͤhig war, den auf ſie ge¬
worfenen ſtrengen Tadel zuruͤckzuweiſen. Bald aber entſpann
ſich ein heftiger Streit, in welchem der Schneider mehrere der
angezettelten Intriguen aufdeckte. Es wuͤrde zu weit fuͤhren,
alle aͤrgerlichen Auftritte, welche eine natuͤrliche Folge davon
waren, zu erzaͤhlen; ſie laſſen ſich nach dem bisher Mitgetheil¬
ten leicht errathen, da eine unter heuchleriſcher Froͤmmigkeit
verſteckte niedrige Geſinnung in ihrer ganzen Haͤßlichkeit her¬
vortritt, wenn ihr der Schleier abgeriſſen wird.
Die W., welche niemals durch ein inniges Vertrauen
an ihre Glaubensgenoſſen gefeſſelt war, konnte ſich durch alle
dieſe Vorgaͤnge nur immer mehr zuruͤckgeſtoßen fuͤhlen. Im¬
mer lebendiger wurde in ihr die Ueberzeugung, daß man ih¬
ren wahren Glauben angefeindet, daß man ſie von Gott los¬
geriſſen habe, um ihr ganz falſche Satzungen aufzudringen,
daß der Gemeinde nur die Schwachen am Geiſte willkommen
ſeien, welche ſich wie eine Schaafheerde willenlos leiten lie¬
ßen; namentlich hatte ſie einen der Angeſehenſten in Verdacht,
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