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Immermann, Karl: Der Carneval und die Somnambüle. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 5. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 139–273. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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wollen, er hat es nicht gekonnt, sie haben ihn zu nichts gemacht. So will ich unbefördert bleiben und ein Nichts sein, wie der Kaiser. Er hätte die Welt glücklich gemacht, wenn er vor Krieg dazu gelangt wäre, nun liegt er auf der Insel St. Helene, und das bischen Erde, was sie von dem Felsen haben abkratzen können, liegt über ihm. Es ist vorbei mit der Welt, sie hat eine Lücke bekommen, wer wird sie ausfüllen?

Die Hegelsche Philosophie! sagte eine Stimme nahebei, die den Frühling des Lebens verrieth. Die Kalender blickten sich um, das Froschgesicht und ich thaten desgleichen. Wir sahen an einem Tische einen rosenrothen weißhärigen Jüngling sitzen, den wir bis jetzt übersehen hatten. Die Hegelsche Philosophie, wiederholte der Jüngling. Er blieb sitzen und belehrte uns, kalt wie ein Sechziger, accentlos, folgendergestalt: Was ist Geist? das zum Bewußtsein gesteigerte Sein. Wohin soll alles Sein streben? Zum Dasein im Geist und Bewußtsein. Wodurch wird die Aufgabe gelöst? Durch das System. Dieses bringt eigentlich alle Dinge erst zur wahren Existenz; wenn wir von denselben und über dieselben reden, dann beginnen sie, im höheren Verstände, vorhanden zu sein. Der Held, die That, die Institution, das Kunstwerk -- werden zu Allem diesem erst, wenn wir angegeben haben, auf welche Weise ihr sich Verunmittelbaren, ihr sich in der Idee und durch die Idee Darstellen geschehen sei. Vorher waren sie Schatten, nun erst erhalten sie wahres Leben.

wollen, er hat es nicht gekonnt, sie haben ihn zu nichts gemacht. So will ich unbefördert bleiben und ein Nichts sein, wie der Kaiser. Er hätte die Welt glücklich gemacht, wenn er vor Krieg dazu gelangt wäre, nun liegt er auf der Insel St. Helene, und das bischen Erde, was sie von dem Felsen haben abkratzen können, liegt über ihm. Es ist vorbei mit der Welt, sie hat eine Lücke bekommen, wer wird sie ausfüllen?

Die Hegelsche Philosophie! sagte eine Stimme nahebei, die den Frühling des Lebens verrieth. Die Kalender blickten sich um, das Froschgesicht und ich thaten desgleichen. Wir sahen an einem Tische einen rosenrothen weißhärigen Jüngling sitzen, den wir bis jetzt übersehen hatten. Die Hegelsche Philosophie, wiederholte der Jüngling. Er blieb sitzen und belehrte uns, kalt wie ein Sechziger, accentlos, folgendergestalt: Was ist Geist? das zum Bewußtsein gesteigerte Sein. Wohin soll alles Sein streben? Zum Dasein im Geist und Bewußtsein. Wodurch wird die Aufgabe gelöst? Durch das System. Dieses bringt eigentlich alle Dinge erst zur wahren Existenz; wenn wir von denselben und über dieselben reden, dann beginnen sie, im höheren Verstände, vorhanden zu sein. Der Held, die That, die Institution, das Kunstwerk — werden zu Allem diesem erst, wenn wir angegeben haben, auf welche Weise ihr sich Verunmittelbaren, ihr sich in der Idee und durch die Idee Darstellen geschehen sei. Vorher waren sie Schatten, nun erst erhalten sie wahres Leben.

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T12:19:09Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T12:19:09Z)

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Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




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Zitationshilfe: Immermann, Karl: Der Carneval und die Somnambüle. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 5. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 139–273. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/immermann_carneval_1910/80>, abgerufen am 21.11.2024.