Der Geier drehte seinen borstigen Schnabel matt nach mir um und verschied sodann, wie es mir vorkam, mit einiger Reue in den Augen.
Ich betrachtete mir die Gegend. Nichts als Felsen und Klippen, eine über der andern, und in der Ferne noch höhere Kuppen! Flechten, Moose und Haiden bedeckten den Stein, Alpenröslein zeigten die rothen Kronen, wilder Lorbeer, Tama- risken, Johannisbrodstauden standen in leichten, dünnen, malerischen Gruppen umher. Ich war auf einer bedeutenden Höhe, denn die Luft zog scharf und kühl, allem Vermuthen nach auf einem der berühmten griechischen Berge, denn der Geier war mit mir südwestlich geflogen, aber auf welchem? Ich befand mich in der peinigendsten Ungewißheit über diesen Punct, weil ich einsah, daß es vor allen Dingen nöthig sei, mich örtlich zurecht zu finden, um den richtigen Weg nach Thessalonich und der linken Rocktasche einzuschlagen, die mir bei den schweren Erfahrungen, welche ich in so kurzer Zeit über Geier und Engländer gemacht hatte, schon jetzt wie ein verlorenes Paradies vorkam.
Aber wie diese Kenntniß erlangen? Die Ge- gend schien so einsam, daß kein Thier, geschweige
Der Geier drehte ſeinen borſtigen Schnabel matt nach mir um und verſchied ſodann, wie es mir vorkam, mit einiger Reue in den Augen.
Ich betrachtete mir die Gegend. Nichts als Felſen und Klippen, eine über der andern, und in der Ferne noch höhere Kuppen! Flechten, Mooſe und Haiden bedeckten den Stein, Alpenröslein zeigten die rothen Kronen, wilder Lorbeer, Tama- risken, Johannisbrodſtauden ſtanden in leichten, dünnen, maleriſchen Gruppen umher. Ich war auf einer bedeutenden Höhe, denn die Luft zog ſcharf und kühl, allem Vermuthen nach auf einem der berühmten griechiſchen Berge, denn der Geier war mit mir ſüdweſtlich geflogen, aber auf welchem? Ich befand mich in der peinigendſten Ungewißheit über dieſen Punct, weil ich einſah, daß es vor allen Dingen nöthig ſei, mich örtlich zurecht zu finden, um den richtigen Weg nach Theſſalonich und der linken Rocktaſche einzuſchlagen, die mir bei den ſchweren Erfahrungen, welche ich in ſo kurzer Zeit über Geier und Engländer gemacht hatte, ſchon jetzt wie ein verlorenes Paradies vorkam.
Aber wie dieſe Kenntniß erlangen? Die Ge- gend ſchien ſo einſam, daß kein Thier, geſchweige
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0138"n="120"/>
Der Geier drehte ſeinen borſtigen Schnabel matt<lb/>
nach mir um und verſchied ſodann, wie es mir<lb/>
vorkam, mit einiger Reue in den Augen.</p><lb/><p>Ich betrachtete mir die Gegend. Nichts als<lb/>
Felſen und Klippen, eine über der andern, und<lb/>
in der Ferne noch höhere Kuppen! Flechten, Mooſe<lb/>
und Haiden bedeckten den Stein, Alpenröslein<lb/>
zeigten die rothen Kronen, wilder Lorbeer, Tama-<lb/>
risken, Johannisbrodſtauden ſtanden in leichten,<lb/>
dünnen, maleriſchen Gruppen umher. Ich war auf<lb/>
einer bedeutenden Höhe, denn die Luft zog ſcharf<lb/>
und kühl, allem Vermuthen nach auf einem der<lb/>
berühmten griechiſchen Berge, denn der Geier war<lb/>
mit mir ſüdweſtlich geflogen, aber auf welchem?<lb/>
Ich befand mich in der peinigendſten Ungewißheit<lb/>
über dieſen Punct, weil ich einſah, daß es vor<lb/>
allen Dingen nöthig ſei, mich örtlich zurecht zu<lb/>
finden, um den richtigen Weg nach Theſſalonich<lb/>
und der linken Rocktaſche einzuſchlagen, die mir<lb/>
bei den ſchweren Erfahrungen, welche ich in ſo<lb/>
kurzer Zeit über Geier und Engländer gemacht hatte,<lb/>ſchon jetzt wie ein verlorenes Paradies vorkam.</p><lb/><p>Aber wie dieſe Kenntniß erlangen? Die Ge-<lb/>
gend ſchien ſo einſam, daß kein Thier, geſchweige<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[120/0138]
Der Geier drehte ſeinen borſtigen Schnabel matt
nach mir um und verſchied ſodann, wie es mir
vorkam, mit einiger Reue in den Augen.
Ich betrachtete mir die Gegend. Nichts als
Felſen und Klippen, eine über der andern, und
in der Ferne noch höhere Kuppen! Flechten, Mooſe
und Haiden bedeckten den Stein, Alpenröslein
zeigten die rothen Kronen, wilder Lorbeer, Tama-
risken, Johannisbrodſtauden ſtanden in leichten,
dünnen, maleriſchen Gruppen umher. Ich war auf
einer bedeutenden Höhe, denn die Luft zog ſcharf
und kühl, allem Vermuthen nach auf einem der
berühmten griechiſchen Berge, denn der Geier war
mit mir ſüdweſtlich geflogen, aber auf welchem?
Ich befand mich in der peinigendſten Ungewißheit
über dieſen Punct, weil ich einſah, daß es vor
allen Dingen nöthig ſei, mich örtlich zurecht zu
finden, um den richtigen Weg nach Theſſalonich
und der linken Rocktaſche einzuſchlagen, die mir
bei den ſchweren Erfahrungen, welche ich in ſo
kurzer Zeit über Geier und Engländer gemacht hatte,
ſchon jetzt wie ein verlorenes Paradies vorkam.
Aber wie dieſe Kenntniß erlangen? Die Ge-
gend ſchien ſo einſam, daß kein Thier, geſchweige
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Immermann, Karl: Münchhausen. Bd. 2. Düsseldorf, 1839, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/immermann_muenchhausen02_1839/138>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.