wahrhaftig giebt der Liebende seine Seele weg! Diese also weggegebene und der Hut berechnenden Ver- standes entlassene Seele ist aus den Fugen, unbe- schützt liegt sie da und ohne Vertheidigung durch irgend eine Selbstsucht, welche unsere nüchternen Tage schirmt. In dieser ihrer göttlichen Schwäche ist sie nun eine Beute für jedes Raubthier von grimmigem Zweifel, fürchterlichem Argwohn, zer- fleischendem Verdacht. Aber im Kampf mit diesen Raubthieren erstarkt sie. Aus ihren tiefsten und noch nie bis dahin entdeckten Abgründen holt sie neue Waffen und eine ungebrauchte Rüstung hervor; sie lernt sich in ihren verborgenen Reichthümern be- greifen, sie vollzieht eine Art von herrlicher Wie- dergeburt und feiert nun auf dieser Stufe die wahre, die himmlische Hochzeit, von welcher die Andere nur das vergröberte irdische Abbild ist. Unverwelklich ist der Kranz, der auf jenem Sie- gesfeste der liebenden Seele getragen wird, und er verschwindet nicht in den Schatten der Braut- nacht.
Darum zwingt eine ewige Nothwendigkeit die wahre Liebe, sich Noth zu schaffen, wenn sie keine Noth hat. Denn nicht träge genießen will sie,
wahrhaftig giebt der Liebende ſeine Seele weg! Dieſe alſo weggegebene und der Hut berechnenden Ver- ſtandes entlaſſene Seele iſt aus den Fugen, unbe- ſchützt liegt ſie da und ohne Vertheidigung durch irgend eine Selbſtſucht, welche unſere nüchternen Tage ſchirmt. In dieſer ihrer göttlichen Schwäche iſt ſie nun eine Beute für jedes Raubthier von grimmigem Zweifel, fürchterlichem Argwohn, zer- fleiſchendem Verdacht. Aber im Kampf mit dieſen Raubthieren erſtarkt ſie. Aus ihren tiefſten und noch nie bis dahin entdeckten Abgründen holt ſie neue Waffen und eine ungebrauchte Rüſtung hervor; ſie lernt ſich in ihren verborgenen Reichthümern be- greifen, ſie vollzieht eine Art von herrlicher Wie- dergeburt und feiert nun auf dieſer Stufe die wahre, die himmliſche Hochzeit, von welcher die Andere nur das vergröberte irdiſche Abbild iſt. Unverwelklich iſt der Kranz, der auf jenem Sie- gesfeſte der liebenden Seele getragen wird, und er verſchwindet nicht in den Schatten der Braut- nacht.
Darum zwingt eine ewige Nothwendigkeit die wahre Liebe, ſich Noth zu ſchaffen, wenn ſie keine Noth hat. Denn nicht träge genießen will ſie,
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wahrhaftig giebt der Liebende ſeine Seele weg! Dieſe
alſo weggegebene und der Hut berechnenden Ver-
ſtandes entlaſſene Seele iſt aus den Fugen, unbe-
ſchützt liegt ſie da und ohne Vertheidigung durch
irgend eine Selbſtſucht, welche unſere nüchternen
Tage ſchirmt. In dieſer ihrer göttlichen Schwäche
iſt ſie nun eine Beute für jedes Raubthier von
grimmigem Zweifel, fürchterlichem Argwohn, zer-
fleiſchendem Verdacht. Aber im Kampf mit dieſen
Raubthieren erſtarkt ſie. Aus ihren tiefſten und noch
nie bis dahin entdeckten Abgründen holt ſie neue
Waffen und eine ungebrauchte Rüſtung hervor; ſie
lernt ſich in ihren verborgenen Reichthümern be-
greifen, ſie vollzieht eine Art von herrlicher Wie-
dergeburt und feiert nun auf dieſer Stufe die
wahre, die himmliſche Hochzeit, von welcher die
Andere nur das vergröberte irdiſche Abbild iſt.
Unverwelklich iſt der Kranz, der auf jenem Sie-
gesfeſte der liebenden Seele getragen wird, und
er verſchwindet nicht in den Schatten der Braut-
nacht.
Darum zwingt eine ewige Nothwendigkeit die
wahre Liebe, ſich Noth zu ſchaffen, wenn ſie keine
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Immermann, Karl: Münchhausen. Bd. 4. Düsseldorf, 1839, S. 182. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/immermann_muenchhausen04_1839/194>, abgerufen am 24.11.2024.
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