Sokrates sich verhüllte, damit er nicht vor Schaam in seiner Rede stecken bliebe; alsdann zu reden anfieng, und sein Wort wahr machte.
Nach geendigter Rede enthüllte sich Sokra- tes, um, mit entblößtem Angesicht, durch ei- nen öffentlichen Widerruf den Gott der Liebe zu versöhnen, den er, wider Willen, hätte lä- stern müssen.
"Ich kann es dem Lysias zugeben, sagte Sokrates, daß die Liebe des Schönen, ihrer Natur nach, unbesonnen, und, da sie, in ih- rem höchsten Grade, den Menschen ausser sich setzt, eine Gattung der Raserey sey. Ich kann dieses zugeben, ohne darum aufzu- hören, diese mächtige Liebe, als das wahrhaft Göttliche im Menschen anzubeten.
"Was aller menschlichen Besonnenheit vor- hergeht; was ihr im Menschen Möglichkeit und Daseyn, Gegenstände, Antrieb, Leitung und Gesetze giebt; ist über jede mittelbare
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Sokrates ſich verhuͤllte, damit er nicht vor Schaam in ſeiner Rede ſtecken bliebe; alsdann zu reden anfieng, und ſein Wort wahr machte.
Nach geendigter Rede enthuͤllte ſich Sokra- tes, um, mit entbloͤßtem Angeſicht, durch ei- nen oͤffentlichen Widerruf den Gott der Liebe zu verſoͤhnen, den er, wider Willen, haͤtte laͤ- ſtern muͤſſen.
„Ich kann es dem Lyſias zugeben, ſagte Sokrates, daß die Liebe des Schoͤnen, ihrer Natur nach, unbeſonnen, und, da ſie, in ih- rem hoͤchſten Grade, den Menſchen auſſer ſich ſetzt, eine Gattung der Raſerey ſey. Ich kann dieſes zugeben, ohne darum aufzu- hoͤren, dieſe maͤchtige Liebe, als das wahrhaft Goͤttliche im Menſchen anzubeten.
„Was aller menſchlichen Beſonnenheit vor- hergeht; was ihr im Menſchen Moͤglichkeit und Daſeyn, Gegenſtaͤnde, Antrieb, Leitung und Geſetze giebt; iſt uͤber jede mittelbare
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Sokrates ſich verhuͤllte, damit er nicht vor
Schaam in ſeiner Rede ſtecken bliebe; alsdann
zu reden anfieng, und ſein Wort wahr machte.
Nach geendigter Rede enthuͤllte ſich Sokra-
tes, um, mit entbloͤßtem Angeſicht, durch ei-
nen oͤffentlichen Widerruf den Gott der Liebe
zu verſoͤhnen, den er, wider Willen, haͤtte laͤ-
ſtern muͤſſen.
„Ich kann es dem Lyſias zugeben, ſagte
Sokrates, daß die Liebe des Schoͤnen, ihrer
Natur nach, unbeſonnen, und, da ſie, in ih-
rem hoͤchſten Grade, den Menſchen auſſer
ſich ſetzt, eine Gattung der Raſerey ſey.
Ich kann dieſes zugeben, ohne darum aufzu-
hoͤren, dieſe maͤchtige Liebe, als das wahrhaft
Goͤttliche im Menſchen anzubeten.
„Was aller menſchlichen Beſonnenheit vor-
hergeht; was ihr im Menſchen Moͤglichkeit
und Daſeyn, Gegenſtaͤnde, Antrieb, Leitung
und Geſetze giebt; iſt uͤber jede mittelbare
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Jacobi, Friedrich Heinrich: Eduard Allwills Briefsammlung. Mit einer Zugabe von eigenen Briefen. Königsberg, 1792, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jacobi_allwill_1792/215>, abgerufen am 21.11.2024.
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