bey Kindern aber auch keinen Trieb zu ei- ner fleischlichen Vermischung. Ein Un- verheiratheter fühlt die Stärke der Kinder- liebe in keinem hohen Grade: folget dar- aus, daß dieses keine allgemeinen Triebe der Natur seyn? Gewisse Triebe äussern sich erst in gewissen Zeiten und Umständen, und ich halte dafür, daß von denen Din- gen, die man insgemein und ordentlicher Weise bey den mehresten Menschen antrifft, ihren Grund in der Natur eines Menschen haben. Und unter selbige gehöret ganz gewiß diese Art der Schamhaftigkeit. Gesetzt aber, es wäre dieselbe nicht in der Natur gegründet, sondern hienge von der Erziehung ab, so ist doch die Schamhaf- tigkeit überhaupt, oder das Gefühl von Ehre und Schande natürlich, und zeiget sich bey kleinen Kindern. Die Natur hat ferner eine solche Schande auf die Unzucht geleget, daß auch alle gesitteten Heiden eine Empfindlichkeit davon gehabt, und die Keuschheit unter die erhabenen Tugenden gezählet haben. Diese Schamhaftigkeit aber giebet einem gewissen Triebe das stärkeste Gleichgewicht, und ist eine Vor- mauer der Keuschheit, die nicht ohne Ge- walt und inneren Widerstand überwälti- get und niedergeworfen wird. Das Ge- fühl derselben hat auch Heiden dahin ge- bracht, daß sie lieber das Leben gelassen,
als
T 4
bey Kindern aber auch keinen Trieb zu ei- ner fleiſchlichen Vermiſchung. Ein Un- verheiratheter fuͤhlt die Staͤrke der Kinder- liebe in keinem hohen Grade: folget dar- aus, daß dieſes keine allgemeinen Triebe der Natur ſeyn? Gewiſſe Triebe aͤuſſern ſich erſt in gewiſſen Zeiten und Umſtaͤnden, und ich halte dafuͤr, daß von denen Din- gen, die man insgemein und ordentlicher Weiſe bey den mehreſten Menſchen antrifft, ihren Grund in der Natur eines Menſchen haben. Und unter ſelbige gehoͤret ganz gewiß dieſe Art der Schamhaftigkeit. Geſetzt aber, es waͤre dieſelbe nicht in der Natur gegruͤndet, ſondern hienge von der Erziehung ab, ſo iſt doch die Schamhaf- tigkeit uͤberhaupt, oder das Gefuͤhl von Ehre und Schande natuͤrlich, und zeiget ſich bey kleinen Kindern. Die Natur hat ferner eine ſolche Schande auf die Unzucht geleget, daß auch alle geſitteten Heiden eine Empfindlichkeit davon gehabt, und die Keuſchheit unter die erhabenen Tugenden gezaͤhlet haben. Dieſe Schamhaftigkeit aber giebet einem gewiſſen Triebe das ſtaͤrkeſte Gleichgewicht, und iſt eine Vor- mauer der Keuſchheit, die nicht ohne Ge- walt und inneren Widerſtand uͤberwaͤlti- get und niedergeworfen wird. Das Ge- fuͤhl derſelben hat auch Heiden dahin ge- bracht, daß ſie lieber das Leben gelaſſen,
als
T 4
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0315"n="295"/>
bey Kindern aber auch keinen Trieb zu ei-<lb/>
ner fleiſchlichen Vermiſchung. Ein Un-<lb/>
verheiratheter fuͤhlt die Staͤrke der Kinder-<lb/>
liebe in keinem hohen Grade: folget dar-<lb/>
aus, daß dieſes keine allgemeinen Triebe<lb/>
der Natur ſeyn? Gewiſſe Triebe aͤuſſern<lb/>ſich erſt in gewiſſen Zeiten und Umſtaͤnden,<lb/>
und ich halte dafuͤr, daß von denen Din-<lb/>
gen, die man insgemein und ordentlicher<lb/>
Weiſe bey den mehreſten Menſchen antrifft,<lb/>
ihren Grund in der Natur eines Menſchen<lb/>
haben. Und unter ſelbige gehoͤret ganz<lb/>
gewiß dieſe Art der Schamhaftigkeit.<lb/>
Geſetzt aber, es waͤre dieſelbe nicht in der<lb/>
Natur gegruͤndet, ſondern hienge von der<lb/>
Erziehung ab, ſo iſt doch die Schamhaf-<lb/>
tigkeit uͤberhaupt, oder das Gefuͤhl von<lb/>
Ehre und Schande natuͤrlich, und zeiget<lb/>ſich bey kleinen Kindern. Die Natur hat<lb/>
ferner eine ſolche Schande auf die Unzucht<lb/>
geleget, daß auch alle geſitteten Heiden eine<lb/>
Empfindlichkeit davon gehabt, und die<lb/>
Keuſchheit unter die erhabenen Tugenden<lb/>
gezaͤhlet haben. Dieſe Schamhaftigkeit<lb/>
aber giebet einem gewiſſen Triebe das<lb/>ſtaͤrkeſte Gleichgewicht, und iſt eine Vor-<lb/>
mauer der Keuſchheit, die nicht ohne Ge-<lb/>
walt und inneren Widerſtand uͤberwaͤlti-<lb/>
get und niedergeworfen wird. Das Ge-<lb/>
fuͤhl derſelben hat auch Heiden dahin ge-<lb/>
bracht, daß ſie lieber das Leben gelaſſen,<lb/><fwplace="bottom"type="sig">T 4</fw><fwplace="bottom"type="catch">als</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[295/0315]
bey Kindern aber auch keinen Trieb zu ei-
ner fleiſchlichen Vermiſchung. Ein Un-
verheiratheter fuͤhlt die Staͤrke der Kinder-
liebe in keinem hohen Grade: folget dar-
aus, daß dieſes keine allgemeinen Triebe
der Natur ſeyn? Gewiſſe Triebe aͤuſſern
ſich erſt in gewiſſen Zeiten und Umſtaͤnden,
und ich halte dafuͤr, daß von denen Din-
gen, die man insgemein und ordentlicher
Weiſe bey den mehreſten Menſchen antrifft,
ihren Grund in der Natur eines Menſchen
haben. Und unter ſelbige gehoͤret ganz
gewiß dieſe Art der Schamhaftigkeit.
Geſetzt aber, es waͤre dieſelbe nicht in der
Natur gegruͤndet, ſondern hienge von der
Erziehung ab, ſo iſt doch die Schamhaf-
tigkeit uͤberhaupt, oder das Gefuͤhl von
Ehre und Schande natuͤrlich, und zeiget
ſich bey kleinen Kindern. Die Natur hat
ferner eine ſolche Schande auf die Unzucht
geleget, daß auch alle geſitteten Heiden eine
Empfindlichkeit davon gehabt, und die
Keuſchheit unter die erhabenen Tugenden
gezaͤhlet haben. Dieſe Schamhaftigkeit
aber giebet einem gewiſſen Triebe das
ſtaͤrkeſte Gleichgewicht, und iſt eine Vor-
mauer der Keuſchheit, die nicht ohne Ge-
walt und inneren Widerſtand uͤberwaͤlti-
get und niedergeworfen wird. Das Ge-
fuͤhl derſelben hat auch Heiden dahin ge-
bracht, daß ſie lieber das Leben gelaſſen,
als
T 4
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Jacobi, Johann Friedrich: Betrachtungen über die Weisen Absichten Gottes, bey denen Dingen, die wir in der menschlichen Gesellschaft und der Offenbarung antreffen. Bd. 4. Hannover, 1766, S. 295. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jacobi_betrachtungen04_1766/315>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.