vielleicht kaum zwanzig Jahre zubringet? Und warum sollen eben Geistliche einem Triebe nicht folgen, der in der menschli- chen Gesellschaft einer von den nöthigsten und nützlichsten ist, wenn es in seiner Ord- nung geschiehet? Wir müssen dem aller- weisesten Beherrscher kein Gesetz andich- ten, welches gar keinen Grund und weise Absicht hat. Es giebet Fälle, da einem Geistlichen die erste Frau wenige Wochen nach der Heirath wieder abstirbet. Wenn derselbe sich nun wieder verehelichet, sollte es denn auch möglich seyn, daß der Wei- seste, der alle Dinge nach ihrer wahren Beschaffenheit betrachtet, die erste Hei- rath als gut, und die zwote als schänd- lich ansehen könnte? Jch trete also denen bey, welche glauben, daß obige Regeln wider die damals so sehr eingerissene Ge- wohnheit der Ehegatten sich von einander zu scheiden und anderwärts zu verheirathen gerichtet seyn, und verordnen, daß nie- mand, der sich auf solche Art geschieden, und viele Männer oder mehrere Frauen ge- habt, ein geistliches Amt bekleiden solle. Wie es damals unter den Römern mit den Ehen ausgesehen, kann folgende Stelle des berühmten Seneca, welcher eben lebete, da das Christenthum seinen An- fang nahm, am deutlichsten beweisen. Er schreibet *): "Erröthet jetzo auch
"irgend
*)Lib. III. de Beneficiis Cap. XVI.
vielleicht kaum zwanzig Jahre zubringet? Und warum ſollen eben Geiſtliche einem Triebe nicht folgen, der in der menſchli- chen Geſellſchaft einer von den noͤthigſten und nuͤtzlichſten iſt, wenn es in ſeiner Ord- nung geſchiehet? Wir muͤſſen dem aller- weiſeſten Beherrſcher kein Geſetz andich- ten, welches gar keinen Grund und weiſe Abſicht hat. Es giebet Faͤlle, da einem Geiſtlichen die erſte Frau wenige Wochen nach der Heirath wieder abſtirbet. Wenn derſelbe ſich nun wieder verehelichet, ſollte es denn auch moͤglich ſeyn, daß der Wei- ſeſte, der alle Dinge nach ihrer wahren Beſchaffenheit betrachtet, die erſte Hei- rath als gut, und die zwote als ſchaͤnd- lich anſehen koͤnnte? Jch trete alſo denen bey, welche glauben, daß obige Regeln wider die damals ſo ſehr eingeriſſene Ge- wohnheit der Ehegatten ſich von einander zu ſcheiden und anderwaͤrts zu verheirathen gerichtet ſeyn, und verordnen, daß nie- mand, der ſich auf ſolche Art geſchieden, und viele Maͤnner oder mehrere Frauen ge- habt, ein geiſtliches Amt bekleiden ſolle. Wie es damals unter den Roͤmern mit den Ehen ausgeſehen, kann folgende Stelle des beruͤhmten Seneca, welcher eben lebete, da das Chriſtenthum ſeinen An- fang nahm, am deutlichſten beweiſen. Er ſchreibet *): „Erroͤthet jetzo auch
„irgend
*)Lib. III. de Beneficiis Cap. XVI.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0354"n="334"/>
vielleicht kaum zwanzig Jahre zubringet?<lb/>
Und warum ſollen eben Geiſtliche einem<lb/>
Triebe nicht folgen, der in der menſchli-<lb/>
chen Geſellſchaft einer von den noͤthigſten<lb/>
und nuͤtzlichſten iſt, wenn es in ſeiner Ord-<lb/>
nung geſchiehet? Wir muͤſſen dem aller-<lb/>
weiſeſten Beherrſcher kein Geſetz andich-<lb/>
ten, welches gar keinen Grund und weiſe<lb/>
Abſicht hat. Es giebet Faͤlle, da einem<lb/>
Geiſtlichen die erſte Frau wenige Wochen<lb/>
nach der Heirath wieder abſtirbet. Wenn<lb/>
derſelbe ſich nun wieder verehelichet, ſollte<lb/>
es denn auch moͤglich ſeyn, daß der Wei-<lb/>ſeſte, der alle Dinge nach ihrer wahren<lb/>
Beſchaffenheit betrachtet, die erſte Hei-<lb/>
rath als gut, und die zwote als ſchaͤnd-<lb/>
lich anſehen koͤnnte? Jch trete alſo denen<lb/>
bey, welche glauben, daß obige Regeln<lb/>
wider die damals ſo ſehr eingeriſſene Ge-<lb/>
wohnheit der Ehegatten ſich von einander<lb/>
zu ſcheiden und anderwaͤrts zu verheirathen<lb/>
gerichtet ſeyn, und verordnen, daß nie-<lb/>
mand, der ſich auf ſolche Art geſchieden,<lb/>
und viele Maͤnner oder mehrere Frauen ge-<lb/>
habt, ein geiſtliches Amt bekleiden ſolle.<lb/>
Wie es damals unter den Roͤmern mit<lb/>
den Ehen ausgeſehen, kann folgende<lb/>
Stelle des beruͤhmten <hirendition="#fr">Seneca,</hi> welcher<lb/>
eben lebete, da das Chriſtenthum ſeinen An-<lb/>
fang nahm, am deutlichſten beweiſen.<lb/>
Er ſchreibet <noteplace="foot"n="*)"><hirendition="#aq">Lib. III. de Beneficiis Cap. XVI.</hi></note>: „Erroͤthet jetzo auch<lb/><fwplace="bottom"type="catch">„irgend</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[334/0354]
vielleicht kaum zwanzig Jahre zubringet?
Und warum ſollen eben Geiſtliche einem
Triebe nicht folgen, der in der menſchli-
chen Geſellſchaft einer von den noͤthigſten
und nuͤtzlichſten iſt, wenn es in ſeiner Ord-
nung geſchiehet? Wir muͤſſen dem aller-
weiſeſten Beherrſcher kein Geſetz andich-
ten, welches gar keinen Grund und weiſe
Abſicht hat. Es giebet Faͤlle, da einem
Geiſtlichen die erſte Frau wenige Wochen
nach der Heirath wieder abſtirbet. Wenn
derſelbe ſich nun wieder verehelichet, ſollte
es denn auch moͤglich ſeyn, daß der Wei-
ſeſte, der alle Dinge nach ihrer wahren
Beſchaffenheit betrachtet, die erſte Hei-
rath als gut, und die zwote als ſchaͤnd-
lich anſehen koͤnnte? Jch trete alſo denen
bey, welche glauben, daß obige Regeln
wider die damals ſo ſehr eingeriſſene Ge-
wohnheit der Ehegatten ſich von einander
zu ſcheiden und anderwaͤrts zu verheirathen
gerichtet ſeyn, und verordnen, daß nie-
mand, der ſich auf ſolche Art geſchieden,
und viele Maͤnner oder mehrere Frauen ge-
habt, ein geiſtliches Amt bekleiden ſolle.
Wie es damals unter den Roͤmern mit
den Ehen ausgeſehen, kann folgende
Stelle des beruͤhmten Seneca, welcher
eben lebete, da das Chriſtenthum ſeinen An-
fang nahm, am deutlichſten beweiſen.
Er ſchreibet *): „Erroͤthet jetzo auch
„irgend
*) Lib. III. de Beneficiis Cap. XVI.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Jacobi, Johann Friedrich: Betrachtungen über die Weisen Absichten Gottes, bey denen Dingen, die wir in der menschlichen Gesellschaft und der Offenbarung antreffen. Bd. 4. Hannover, 1766, S. 334. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jacobi_betrachtungen04_1766/354>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.