Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jahn, Friedrich Ludwig: Deutsches Volksthum. Lübeck, 1810.

Bild:
<< vorherige Seite

schenherz leer, wenn sie nicht durch andere Men¬
schen belebt wird. Ein Örtchen, äußerlich un¬
ansehnlich und sonst unbedeutend, wird uns lieb,
so bald Menschen darin wohnen, die uns ange¬
hen. Ungewitter die dort hin ziehn, streifen nicht
als Luftgebilde an unserer Selbstsucht vorüber;
wir schauen ihnen ängstlich nach, denn sie bedro¬
hen unsere Theuren. Eine Gegend, wo wir
Freude genossen, glückliche Augenblicke verlebten,
gute Thaten verrichteten, ist uns heimisch, wie
die Geburtsstätte unsers Daseins. Und Umge¬
bungen, wo sich Hochgedanken in uns erzeug¬
ten, wo Gefühle, uns vorher unbekannt, die
Seele füllten, heiligen sich uns zu einer Vereh¬
rung. Aus Erinnerungen von Gedanken, Ge¬
fühlen und Handlungen besteht unser Leben,
und wir fesseln sie nur durch die Vorstellung
von Raum und Zeit. Sind uns aber erst diese
entflohn, so tappen wir vor uns in Nacht, und
hinter uns in Düsterniß. Das Leben soll ja
selbst nur eine Reise sein, aber man kann auch
auf Reisen leben: Nur muß man nicht im ge¬
mächlichen Blindekuhwagen fahren, sich auf
Landstraßen umhertreiben, um Wirthshäuser und

ſchenherz leer, wenn ſie nicht durch andere Men¬
ſchen belebt wird. Ein Örtchen, äußerlich un¬
anſehnlich und ſonſt unbedeutend, wird uns lieb,
ſo bald Menſchen darin wohnen, die uns ange¬
hen. Ungewitter die dort hin ziehn, ſtreifen nicht
als Luftgebilde an unſerer Selbſtſucht vorüber;
wir ſchauen ihnen ängſtlich nach, denn ſie bedro¬
hen unſere Theuren. Eine Gegend, wo wir
Freude genoſſen, glückliche Augenblicke verlebten,
gute Thaten verrichteten, iſt uns heimiſch, wie
die Geburtsſtätte unſers Daſeins. Und Umge¬
bungen, wo ſich Hochgedanken in uns erzeug¬
ten, wo Gefühle, uns vorher unbekannt, die
Seele füllten, heiligen ſich uns zu einer Vereh¬
rung. Aus Erinnerungen von Gedanken, Ge¬
fühlen und Handlungen beſteht unſer Leben,
und wir feſſeln ſie nur durch die Vorſtellung
von Raum und Zeit. Sind uns aber erſt dieſe
entflohn, ſo tappen wir vor uns in Nacht, und
hinter uns in Düſterniß. Das Leben ſoll ja
ſelbſt nur eine Reiſe ſein, aber man kann auch
auf Reiſen leben: Nur muß man nicht im ge¬
mächlichen Blindekuhwagen fahren, ſich auf
Landſtraßen umhertreiben, um Wirthshäuſer und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0472" n="442"/><fw type="pageNum" place="top">442<lb/></fw>&#x017F;chenherz leer, wenn &#x017F;ie nicht durch andere Men¬<lb/>
&#x017F;chen belebt wird. Ein Örtchen, äußerlich un¬<lb/>
an&#x017F;ehnlich und &#x017F;on&#x017F;t unbedeutend, wird uns lieb,<lb/>
&#x017F;o bald Men&#x017F;chen darin wohnen, die uns ange¬<lb/>
hen. Ungewitter die dort hin ziehn, &#x017F;treifen nicht<lb/>
als Luftgebilde an un&#x017F;erer Selb&#x017F;t&#x017F;ucht vorüber;<lb/>
wir &#x017F;chauen ihnen äng&#x017F;tlich nach, denn &#x017F;ie bedro¬<lb/>
hen un&#x017F;ere Theuren. Eine Gegend, wo wir<lb/>
Freude geno&#x017F;&#x017F;en, glückliche Augenblicke verlebten,<lb/>
gute Thaten verrichteten, i&#x017F;t uns heimi&#x017F;ch, wie<lb/>
die Geburts&#x017F;tätte un&#x017F;ers Da&#x017F;eins. Und Umge¬<lb/>
bungen, wo &#x017F;ich Hochgedanken in uns erzeug¬<lb/>
ten, wo Gefühle, uns vorher unbekannt, die<lb/>
Seele füllten, heiligen &#x017F;ich uns zu einer Vereh¬<lb/>
rung. Aus Erinnerungen von Gedanken, Ge¬<lb/>
fühlen und Handlungen be&#x017F;teht un&#x017F;er Leben,<lb/>
und wir fe&#x017F;&#x017F;eln &#x017F;ie nur durch die Vor&#x017F;tellung<lb/>
von Raum und Zeit. Sind uns aber er&#x017F;t die&#x017F;e<lb/>
entflohn, &#x017F;o tappen wir vor uns in Nacht, und<lb/>
hinter uns in Dü&#x017F;terniß. Das Leben &#x017F;oll ja<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t nur eine Rei&#x017F;e &#x017F;ein, aber man kann auch<lb/>
auf Rei&#x017F;en leben: Nur muß man nicht im ge¬<lb/>
mächlichen Blindekuhwagen fahren, &#x017F;ich auf<lb/>
Land&#x017F;traßen umhertreiben, um Wirthshäu&#x017F;er und<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[442/0472] 442 ſchenherz leer, wenn ſie nicht durch andere Men¬ ſchen belebt wird. Ein Örtchen, äußerlich un¬ anſehnlich und ſonſt unbedeutend, wird uns lieb, ſo bald Menſchen darin wohnen, die uns ange¬ hen. Ungewitter die dort hin ziehn, ſtreifen nicht als Luftgebilde an unſerer Selbſtſucht vorüber; wir ſchauen ihnen ängſtlich nach, denn ſie bedro¬ hen unſere Theuren. Eine Gegend, wo wir Freude genoſſen, glückliche Augenblicke verlebten, gute Thaten verrichteten, iſt uns heimiſch, wie die Geburtsſtätte unſers Daſeins. Und Umge¬ bungen, wo ſich Hochgedanken in uns erzeug¬ ten, wo Gefühle, uns vorher unbekannt, die Seele füllten, heiligen ſich uns zu einer Vereh¬ rung. Aus Erinnerungen von Gedanken, Ge¬ fühlen und Handlungen beſteht unſer Leben, und wir feſſeln ſie nur durch die Vorſtellung von Raum und Zeit. Sind uns aber erſt dieſe entflohn, ſo tappen wir vor uns in Nacht, und hinter uns in Düſterniß. Das Leben ſoll ja ſelbſt nur eine Reiſe ſein, aber man kann auch auf Reiſen leben: Nur muß man nicht im ge¬ mächlichen Blindekuhwagen fahren, ſich auf Landſtraßen umhertreiben, um Wirthshäuſer und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jahn_volksthum_1810
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jahn_volksthum_1810/472
Zitationshilfe: Jahn, Friedrich Ludwig: Deutsches Volksthum. Lübeck, 1810, S. 442. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jahn_volksthum_1810/472>, abgerufen am 15.05.2024.