damit, er mag noch so starker Natur sein, in 80, 90 Jahren muth- willig ums Leben, wie Sie denn selber oft Bauern begraben haben müssen, die wenn sie bis in ihr spätes Alter geschlipte Milch frassen, endlich daran Todes verfuhren.
Ich bitte Sie, mich wegen dieses Briefs mit einiger Stärke von5 der Kanzel zu werfen und überhaupt die grösten Freigeister, die in Paris wohnen, hier in Töpen mit [dem] Hammer des Gesezes halb todt zu schlagen. Den hiesigen Bauern hilft es zwar gar nichts: denn sie lieben nicht sowol das Freidenken als [das] Freileben; ia vor ihren[243] Ohren gegen die Freigeisterei, von der nichts in ihrem Kopfe ist als der10 Name, lospredigen ist soviel als wenn sich ein Stadtarzt auf die Heilung der Seekrankheit legen wolte, die auf dem Lande noch seltner ist als ein Schif von Pappendekkel. Ich wolte überhaupt, ich wäre irgend wo als Pfarrer ansässig oder hier als Kaplan: ich würde wahrhaftig iene neuerungssüchtigen Geistlichen (dergleichen gewis der15 rehauer, der schwarzenbacher und ein näherer ist) wenig nachahmen aber wol verkezern, da sie (wie ich in Erfahrung gebracht) immer und ewig Moral predigen als ob man tugendhaft sein müste um seelig zu werden, und da sie wie ich besorge mehr lesen als trinken und keinen andern Durst haben als nach Kentnissen. Ich würde die heilige20 Stätte zur Freistätte meiner Galle und meines Kopfes machen ((wie in Nürnberg und Paris die verlierende Parthei in der Gerichtsstube eine Viertelstunde schimpfen darf)); ich würde darauf beharren, daß Irthümer und Bier desto besser werden, ie älter sie werden; ich würde dem Mangel an Kinderlehren so gut wie möglich durch Überflus an25 Privatkommunionen abzuhelfen sorgen; ich würde minder über die Seelen als Mägen meiner Schafe wachen; ich würde mich für klug und die mich dazu machen wolten, für dum ansehen; ich würde meinen Arm so sehr vor mir hinstrekken, bis er halb so lang wäre wie der weltliche. --30
Ich muste diese Präservazionskur mit Ihnen auf Kosten meiner Zeit vornehmen, um Ihnen auf künftighin den Vorwurf des Atheismus abzugewöhnen, auf den ich Sie wie Ihnen ieder Jurist beweisen kan, iniuriarum verklagen kan. Lassen Sie mich meinen Weg fortziehen, auf dem ich die Wahrheit untersuche, liebe und vertheidige nicht weil35 sie Akzidenzien zuwirft sondern weils Pflicht ist; lassen Sie mich glauben, daß diese Welt mehr für die Nachahmung der Gotheit
damit, er mag noch ſo ſtarker Natur ſein, in 80, 90 Jahren muth- willig ums Leben, wie Sie denn ſelber oft Bauern begraben haben müſſen, die wenn ſie bis in ihr ſpätes Alter geſchlipte Milch fraſſen, endlich daran Todes verfuhren.
Ich bitte Sie, mich wegen dieſes Briefs mit einiger Stärke von5 der Kanzel zu werfen und überhaupt die gröſten Freigeiſter, die in Paris wohnen, hier in Töpen mit [dem] Hammer des Geſezes halb todt zu ſchlagen. Den hieſigen Bauern hilft es zwar gar nichts: denn ſie lieben nicht ſowol das Freidenken als [das] Freileben; ia vor ihren[243] Ohren gegen die Freigeiſterei, von der nichts in ihrem Kopfe iſt als der10 Name, lospredigen iſt ſoviel als wenn ſich ein Stadtarzt auf die Heilung der Seekrankheit legen wolte, die auf dem Lande noch ſeltner iſt als ein Schif von Pappendekkel. Ich wolte überhaupt, ich wäre irgend wo als Pfarrer anſäſſig oder hier als Kaplan: ich würde wahrhaftig iene neuerungsſüchtigen Geiſtlichen (dergleichen gewis der15 rehauer, der ſchwarzenbacher und ein näherer iſt) wenig nachahmen aber wol verkezern, da ſie (wie ich in Erfahrung gebracht) immer und ewig Moral predigen als ob man tugendhaft ſein müſte um ſeelig zu werden, und da ſie wie ich beſorge mehr leſen als trinken und keinen andern Durſt haben als nach Kentniſſen. Ich würde die heilige20 Stätte zur Freiſtätte meiner Galle und meines Kopfes machen ((wie in Nürnberg und Paris die verlierende Parthei in der Gerichtsſtube eine Viertelſtunde ſchimpfen darf)); ich würde darauf beharren, daß Irthümer und Bier deſto beſſer werden, ie älter ſie werden; ich würde dem Mangel an Kinderlehren ſo gut wie möglich durch Überflus an25 Privatkommunionen abzuhelfen ſorgen; ich würde minder über die Seelen als Mägen meiner Schafe wachen; ich würde mich für klug und die mich dazu machen wolten, für dum anſehen; ich würde meinen Arm ſo ſehr vor mir hinſtrekken, bis er halb ſo lang wäre wie der weltliche. —30
Ich muſte dieſe Präſervazionskur mit Ihnen auf Koſten meiner Zeit vornehmen, um Ihnen auf künftighin den Vorwurf des Atheiſmus abzugewöhnen, auf den ich Sie wie Ihnen ieder Juriſt beweiſen kan, iniuriarum verklagen kan. Laſſen Sie mich meinen Weg fortziehen, auf dem ich die Wahrheit unterſuche, liebe und vertheidige nicht weil35 ſie Akzidenzien zuwirft ſondern weils Pflicht iſt; laſſen Sie mich glauben, daß dieſe Welt mehr für die Nachahmung der Gotheit
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damit, er mag noch ſo ſtarker Natur ſein, in 80, 90 Jahren muth-
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müſſen, die wenn ſie bis in ihr ſpätes Alter geſchlipte Milch fraſſen,
endlich daran Todes verfuhren.
Ich bitte Sie, mich wegen dieſes Briefs mit einiger Stärke von 5
der Kanzel zu werfen und überhaupt die gröſten Freigeiſter, die in
Paris wohnen, hier in Töpen mit [dem] Hammer des Geſezes halb
todt zu ſchlagen. Den hieſigen Bauern hilft es zwar gar nichts: denn ſie
lieben nicht ſowol das Freidenken als [das] Freileben; ia vor ihren
Ohren gegen die Freigeiſterei, von der nichts in ihrem Kopfe iſt als der 10
Name, lospredigen iſt ſoviel als wenn ſich ein Stadtarzt auf die
Heilung der Seekrankheit legen wolte, die auf dem Lande noch ſeltner
iſt als ein Schif von Pappendekkel. Ich wolte überhaupt, ich wäre
irgend wo als Pfarrer anſäſſig oder hier als Kaplan: ich würde
wahrhaftig iene neuerungsſüchtigen Geiſtlichen (dergleichen gewis der 15
rehauer, der ſchwarzenbacher und ein näherer iſt) wenig nachahmen
aber wol verkezern, da ſie (wie ich in Erfahrung gebracht) immer und
ewig Moral predigen als ob man tugendhaft ſein müſte um ſeelig
zu werden, und da ſie wie ich beſorge mehr leſen als trinken und keinen
andern Durſt haben als nach Kentniſſen. Ich würde die heilige 20
Stätte zur Freiſtätte meiner Galle und meines Kopfes machen ((wie
in Nürnberg und Paris die verlierende Parthei in der Gerichtsſtube
eine Viertelſtunde ſchimpfen darf)); ich würde darauf beharren, daß
Irthümer und Bier deſto beſſer werden, ie älter ſie werden; ich würde
dem Mangel an Kinderlehren ſo gut wie möglich durch Überflus an 25
Privatkommunionen abzuhelfen ſorgen; ich würde minder über die
Seelen als Mägen meiner Schafe wachen; ich würde mich für klug
und die mich dazu machen wolten, für dum anſehen; ich würde meinen
Arm ſo ſehr vor mir hinſtrekken, bis er halb ſo lang wäre wie der
weltliche. — 30
[243]Ich muſte dieſe Präſervazionskur mit Ihnen auf Koſten meiner
Zeit vornehmen, um Ihnen auf künftighin den Vorwurf des Atheiſmus
abzugewöhnen, auf den ich Sie wie Ihnen ieder Juriſt beweiſen kan,
iniuriarum verklagen kan. Laſſen Sie mich meinen Weg fortziehen,
auf dem ich die Wahrheit unterſuche, liebe und vertheidige nicht weil 35
ſie Akzidenzien zuwirft ſondern weils Pflicht iſt; laſſen Sie mich
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
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Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T14:52:17Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T14:52:17Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 1. Berlin, 1956, S. 229. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe01_1956/254>, abgerufen am 21.11.2024.
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