war aber ein ausserordentlicher Spas. Ich war oft dabei, wenn der Bader Riedel zu ihm kam, um ihn auf den Sontag zu rasiren: "ach lieber H. Riedel, es wird da wenig zu scheeren geben, denn es fehlt mir leider der Kopf und was wollen Sie einseifen?" Kam der Friseur Weil[er]: so sagt' er: "wenn Sie nicht die Luft um mich oder meine5 Achselhaare frisiren wollen: so sind Sie und Ihre Kämme unnüz; denn ich hatte wol Haare und hübsche dazu: aber mit dem Kopf giengen sie kapores und es ist freilich ein Jammer." Er schrie oft: "mir sind alle Schnupftücher unnüz und alle Brillen und alle Zahn- stocher und alle mod[ischen] tollen Hüte -- aus ganz bekanten Ur-10 sachen." Noch närrischer als diese Narheit war der Anlas dazu und ich wundre mich oft darüber (über deine Gleichgültigkeit hast du Be- schwerden, wiewol nicht Beweise geführt) -- Ich fahre fort, aber gewissermassen besoffen oder vielmehr berauscht -- nicht von den Reizen, [der griechischen Nase und] feingeschlängelten Mundeslinie --15 sondern vom Hirschberger Bier. Besagter Kerl hatte nun einmal eine Eiterdrüse im Nakken und darüber diesen physiologischen Sorites in der 4ten Gehirnkammer: "besagte Kammer ist dem Nakken unendlich näher als die 3 andern; frist nun das Geschwür tief und weiter oder bis zur 4ten Kammer: so ists mit allen Nerven, die den Kopf beseelen20 und wässern, völlig vorbei und der arme Kopf fault mir so gut ab als läg' ich im Erbbegräbnis oder als hätt' ich Mutterkorn gefressen, [285]wovon almählig sich die Füsse abtrennen." Und dafür hätt' er seinen Kopf zum Pfand gesezt, daß er ihm abgefallen: bis man ihn mit soviel Blei befrachtete, daß er das Dasein seines Kopfs wie die25 Apperzepzion seiner selbst von der Empfindung lernte. -- Sonderbar ists, daß ich in Hof (iezt lebt er, wenn ich recht höre, in den Landen deines Königs) einen Genieman gekant, der eben so närrisch als sein König aber 100 mal klüger war. Dieser hatte die nämliche fixe Idee. Denn in Briefen vol Wiz etc. klagt' er, daß er alles das eingebüsset...30 ich schrieb ihm, wie einer eine Liebe verloren habe, die ihm noch werth ist und die er betrauert --
[Hof] 28 Apr.
ich bewies ihm, daß dieses Gefühl nie verloren wird, am wenigsten wenn man sich über dessen Verlust betrübt. Inzwischen wollen wir35 Got danken, daß wir unsres Orts nicht an diese hypochondrische Klippe fahren und viel vernünftiger von unserm grossen Werthe
war aber ein auſſerordentlicher Spas. Ich war oft dabei, wenn der Bader Riedel zu ihm kam, um ihn auf den Sontag zu raſiren: „ach lieber H. Riedel, es wird da wenig zu ſcheeren geben, denn es fehlt mir leider der Kopf und was wollen Sie einſeifen?“ Kam der Friſeur Weil[er]: ſo ſagt’ er: „wenn Sie nicht die Luft um mich oder meine5 Achſelhaare friſiren wollen: ſo ſind Sie und Ihre Kämme unnüz; denn ich hatte wol Haare und hübſche dazu: aber mit dem Kopf giengen ſie kapores und es iſt freilich ein Jammer.“ Er ſchrie oft: „mir ſind alle Schnupftücher unnüz und alle Brillen und alle Zahn- ſtocher und alle mod[iſchen] tollen Hüte — aus ganz bekanten Ur-10 ſachen.“ Noch närriſcher als dieſe Narheit war der Anlas dazu und ich wundre mich oft darüber (über deine Gleichgültigkeit haſt du Be- ſchwerden, wiewol nicht Beweiſe geführt) — Ich fahre fort, aber gewiſſermaſſen beſoffen oder vielmehr berauſcht — nicht von den Reizen, [der griechiſchen Naſe und] feingeſchlängelten Mundeslinie —15 ſondern vom Hirſchberger Bier. Beſagter Kerl hatte nun einmal eine Eiterdrüſe im Nakken und darüber dieſen phyſiologiſchen Sorites in der 4ten Gehirnkammer: „beſagte Kammer iſt dem Nakken unendlich näher als die 3 andern; friſt nun das Geſchwür tief und weiter oder bis zur 4ten Kammer: ſo iſts mit allen Nerven, die den Kopf beſeelen20 und wäſſern, völlig vorbei und der arme Kopf fault mir ſo gut ab als läg’ ich im Erbbegräbnis oder als hätt’ ich Mutterkorn gefreſſen, [285]wovon almählig ſich die Füſſe abtrennen.“ Und dafür hätt’ er ſeinen Kopf zum Pfand geſezt, daß er ihm abgefallen: bis man ihn mit ſoviel Blei befrachtete, daß er das Daſein ſeines Kopfs wie die25 Apperzepzion ſeiner ſelbſt von der Empfindung lernte. — Sonderbar iſts, daß ich in Hof (iezt lebt er, wenn ich recht höre, in den Landen deines Königs) einen Genieman gekant, der eben ſo närriſch als ſein König aber 100 mal klüger war. Dieſer hatte die nämliche fixe Idee. Denn in Briefen vol Wiz ꝛc. klagt’ er, daß er alles das eingebüſſet…30 ich ſchrieb ihm, wie einer eine Liebe verloren habe, die ihm noch werth iſt und die er betrauert —
[Hof] 28 Apr.
ich bewies ihm, daß dieſes Gefühl nie verloren wird, am wenigſten wenn man ſich über deſſen Verluſt betrübt. Inzwiſchen wollen wir35 Got danken, daß wir unſres Orts nicht an dieſe hypochondriſche Klippe fahren und viel vernünftiger von unſerm groſſen Werthe
<TEI><text><body><divtype="letter"n="1"><p><pbfacs="#f0295"n="270"/>
war aber ein auſſerordentlicher Spas. Ich war oft dabei, wenn der<lb/>
Bader Riedel zu ihm kam, um ihn auf den Sontag zu raſiren: „ach<lb/>
lieber H. Riedel, es wird da wenig zu ſcheeren geben, denn es fehlt<lb/>
mir leider der Kopf und was wollen Sie einſeifen?“ Kam der Friſeur<lb/>
Weil<metamark>[</metamark>er<metamark>]</metamark>: ſo ſagt’ er: „wenn Sie nicht die Luft um mich oder meine<lbn="5"/>
Achſelhaare friſiren wollen: ſo ſind Sie und Ihre Kämme unnüz;<lb/>
denn ich hatte wol Haare und hübſche dazu: aber mit dem Kopf<lb/>
giengen ſie kapores und es iſt freilich ein Jammer.“ Er ſchrie oft:<lb/>„mir ſind alle Schnupftücher unnüz und alle Brillen und alle Zahn-<lb/>ſtocher und alle mod<metamark>[</metamark>iſchen<metamark>]</metamark> tollen Hüte — aus ganz bekanten Ur-<lbn="10"/>ſachen.“ Noch närriſcher als dieſe Narheit war der Anlas dazu und<lb/>
ich wundre mich oft darüber (über deine Gleichgültigkeit haſt du Be-<lb/>ſchwerden, wiewol nicht Beweiſe geführt) — Ich fahre fort, aber<lb/>
gewiſſermaſſen beſoffen oder vielmehr berauſcht — nicht von den<lb/>
Reizen, <metamark>[</metamark>der griechiſchen Naſe und<metamark>]</metamark> feingeſchlängelten Mundeslinie —<lbn="15"/>ſondern vom Hirſchberger Bier. Beſagter Kerl hatte nun einmal eine<lb/>
Eiterdrüſe im Nakken und darüber dieſen phyſiologiſchen Sorites in<lb/>
der 4<hirendition="#sup">ten</hi> Gehirnkammer: „beſagte Kammer iſt dem Nakken unendlich<lb/>
näher als die 3 andern; friſt nun das Geſchwür tief und weiter oder<lb/>
bis zur 4<hirendition="#sup">ten</hi> Kammer: ſo iſts mit allen Nerven, die den Kopf beſeelen<lbn="20"/>
und wäſſern, völlig vorbei und der arme Kopf fault mir ſo gut ab als<lb/>
läg’ ich im Erbbegräbnis oder als hätt’ ich Mutterkorn gefreſſen,<lb/><noteplace="left"><reftarget="1922_Bd#_285">[285]</ref></note>wovon almählig ſich die Füſſe abtrennen.“ Und dafür hätt’ er ſeinen<lb/>
Kopf zum Pfand geſezt, daß er ihm abgefallen: bis man ihn mit<lb/>ſoviel Blei befrachtete, daß er das Daſein ſeines Kopfs wie die<lbn="25"/>
Apperzepzion ſeiner ſelbſt von der Empfindung lernte. — Sonderbar<lb/>
iſts, daß ich in Hof (iezt lebt er, wenn ich recht höre, in den Landen<lb/>
deines Königs) einen Genieman gekant, der eben ſo närriſch als ſein<lb/>
König aber 100 mal klüger war. Dieſer hatte die nämliche fixe Idee.<lb/>
Denn in Briefen vol Wiz ꝛc. klagt’ er, daß er alles das eingebüſſet…<lbn="30"/>
ich ſchrieb ihm, wie einer eine Liebe verloren habe, die ihm noch werth<lb/>
iſt und die er betrauert —</p><lb/><div><dateline><hirendition="#right"><metamark>[</metamark>Hof<metamark>]</metamark> 28 Apr.</hi></dateline><lb/><p>ich bewies ihm, daß dieſes Gefühl nie verloren wird, am wenigſten<lb/>
wenn man ſich über deſſen Verluſt betrübt. Inzwiſchen wollen wir<lbn="35"/>
Got danken, daß wir unſres Orts nicht an dieſe hypochondriſche<lb/>
Klippe fahren und viel vernünftiger von unſerm groſſen Werthe<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[270/0295]
war aber ein auſſerordentlicher Spas. Ich war oft dabei, wenn der
Bader Riedel zu ihm kam, um ihn auf den Sontag zu raſiren: „ach
lieber H. Riedel, es wird da wenig zu ſcheeren geben, denn es fehlt
mir leider der Kopf und was wollen Sie einſeifen?“ Kam der Friſeur
Weil[er]: ſo ſagt’ er: „wenn Sie nicht die Luft um mich oder meine 5
Achſelhaare friſiren wollen: ſo ſind Sie und Ihre Kämme unnüz;
denn ich hatte wol Haare und hübſche dazu: aber mit dem Kopf
giengen ſie kapores und es iſt freilich ein Jammer.“ Er ſchrie oft:
„mir ſind alle Schnupftücher unnüz und alle Brillen und alle Zahn-
ſtocher und alle mod[iſchen] tollen Hüte — aus ganz bekanten Ur- 10
ſachen.“ Noch närriſcher als dieſe Narheit war der Anlas dazu und
ich wundre mich oft darüber (über deine Gleichgültigkeit haſt du Be-
ſchwerden, wiewol nicht Beweiſe geführt) — Ich fahre fort, aber
gewiſſermaſſen beſoffen oder vielmehr berauſcht — nicht von den
Reizen, [der griechiſchen Naſe und] feingeſchlängelten Mundeslinie — 15
ſondern vom Hirſchberger Bier. Beſagter Kerl hatte nun einmal eine
Eiterdrüſe im Nakken und darüber dieſen phyſiologiſchen Sorites in
der 4ten Gehirnkammer: „beſagte Kammer iſt dem Nakken unendlich
näher als die 3 andern; friſt nun das Geſchwür tief und weiter oder
bis zur 4ten Kammer: ſo iſts mit allen Nerven, die den Kopf beſeelen 20
und wäſſern, völlig vorbei und der arme Kopf fault mir ſo gut ab als
läg’ ich im Erbbegräbnis oder als hätt’ ich Mutterkorn gefreſſen,
wovon almählig ſich die Füſſe abtrennen.“ Und dafür hätt’ er ſeinen
Kopf zum Pfand geſezt, daß er ihm abgefallen: bis man ihn mit
ſoviel Blei befrachtete, daß er das Daſein ſeines Kopfs wie die 25
Apperzepzion ſeiner ſelbſt von der Empfindung lernte. — Sonderbar
iſts, daß ich in Hof (iezt lebt er, wenn ich recht höre, in den Landen
deines Königs) einen Genieman gekant, der eben ſo närriſch als ſein
König aber 100 mal klüger war. Dieſer hatte die nämliche fixe Idee.
Denn in Briefen vol Wiz ꝛc. klagt’ er, daß er alles das eingebüſſet… 30
ich ſchrieb ihm, wie einer eine Liebe verloren habe, die ihm noch werth
iſt und die er betrauert —
[285]
[Hof] 28 Apr.
ich bewies ihm, daß dieſes Gefühl nie verloren wird, am wenigſten
wenn man ſich über deſſen Verluſt betrübt. Inzwiſchen wollen wir 35
Got danken, daß wir unſres Orts nicht an dieſe hypochondriſche
Klippe fahren und viel vernünftiger von unſerm groſſen Werthe
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T14:52:17Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T14:52:17Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 1. Berlin, 1956, S. 270. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe01_1956/295>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.