höhere Wesen das für uns sind, was wir für die Thiere -- daß sie mit unsichtbarer Uneigennüzigkeit um die wichtigsten Handlungen des Menschen, nämlich um seine einsamen, und um seine wichtigsten Gedanken, nämlich um seine ungehörten Wache stehen. Auch wüst' ich[388] nichts, was der arme Mensch in der brausenden Waldung des Lebens5 mitten unter Thieren -- Irsteigen -- wilden Jägern -- Stürmen und fallenden Bäumen nöthiger hätte als eine unsichtbare Hand, an der er williger und richtiger geht als an allen sichtbaren. -- --
Der Genius.10
In der Mitternacht, die zwischen zwei Jahren liegt, wird die Sand- uhr des alten umgestürzt -- Alle Genien der schlafenden Menschen ziehen in den Mond und fallen nieder vor einem Thron, um den ein ewiger Schimmer und Zephyr flattert; für den, der sich darauf verhült, hat der Endliche keinen Namen. Jeder Genius führet hinter sich die15 365 Wolken, durch die er seinen Menschen zog...
Ich wende mein Auge mit Schauer von den andern Genien dieses Jahres, die mit volgebluteten Wolken, auf welche Leichname und Glieder geworfen waren, vor den stummen Thron des Schiksals giengen; und ich sehe blos den friedlichern Genius an, der Deine20 Wolken, A., beherschte und leitete.
Dein Genius schimmerte wie eine Sonne im Regenbogenkreis von Wolken, die nun auf ewig von der engen Erde in die weite Ewigkeit geflogen sind. Er sah mit einem Auge den immer um ihn wirbelnden Wolken nach und zählte die, auf denen eine Abendröthe, eine Neben-25 sonne, ein Regenbogen glimte -- er wolte noch länger zählen, aber er muste seinen Blik vol Liebe von denen abziehen, in denen Regentropfen, Nebel und Dunkel niederhiengen. --
Erhaben und langsam zogen jezt aus der tiefen Ewigkeit in langer Reihe die künftigen 365 Wolken eines jeden von uns, in denen so30 mancher Bliz, so manches Eis auf unsern unbeschirmten Busen wartet. -- --
Dein Genius schlug das Auge an dem stummen Throne dessen nieder, den zwei Ewigkeiten umgeben, und sagte: "Ewiger, durch den "ichs bin! Du siehst das zukünftige und ich nur das vergangne35 "Gewölk. Ach der arme zerrinnende Mensch ruht drunten auf der
24 Jean Paul Briefe. I.
höhere Weſen das für uns ſind, was wir für die Thiere — daß ſie mit unſichtbarer Uneigennüzigkeit um die wichtigſten Handlungen des Menſchen, nämlich um ſeine einſamen, und um ſeine wichtigſten Gedanken, nämlich um ſeine ungehörten Wache ſtehen. Auch wüſt’ ich[388] nichts, was der arme Menſch in der brauſenden Waldung des Lebens5 mitten unter Thieren — Irſteigen — wilden Jägern — Stürmen und fallenden Bäumen nöthiger hätte als eine unſichtbare Hand, an der er williger und richtiger geht als an allen ſichtbaren. — —
Der Genius.10
In der Mitternacht, die zwiſchen zwei Jahren liegt, wird die Sand- uhr des alten umgeſtürzt — Alle Genien der ſchlafenden Menſchen ziehen in den Mond und fallen nieder vor einem Thron, um den ein ewiger Schimmer und Zephyr flattert; für den, der ſich darauf verhült, hat der Endliche keinen Namen. Jeder Genius führet hinter ſich die15 365 Wolken, durch die er ſeinen Menſchen zog...
Ich wende mein Auge mit Schauer von den andern Genien dieſes Jahres, die mit volgebluteten Wolken, auf welche Leichname und Glieder geworfen waren, vor den ſtummen Thron des Schikſals giengen; und ich ſehe blos den friedlichern Genius an, der Deine20 Wolken, A., beherſchte und leitete.
Dein Genius ſchimmerte wie eine Sonne im Regenbogenkreis von Wolken, die nun auf ewig von der engen Erde in die weite Ewigkeit geflogen ſind. Er ſah mit einem Auge den immer um ihn wirbelnden Wolken nach und zählte die, auf denen eine Abendröthe, eine Neben-25 ſonne, ein Regenbogen glimte — er wolte noch länger zählen, aber er muſte ſeinen Blik vol Liebe von denen abziehen, in denen Regentropfen, Nebel und Dunkel niederhiengen. —
Erhaben und langſam zogen jezt aus der tiefen Ewigkeit in langer Reihe die künftigen 365 Wolken eines jeden von uns, in denen ſo30 mancher Bliz, ſo manches Eis auf unſern unbeſchirmten Buſen wartet. — —
Dein Genius ſchlug das Auge an dem ſtummen Throne deſſen nieder, den zwei Ewigkeiten umgeben, und ſagte: „Ewiger, durch den „ichs bin! Du ſiehſt das zukünftige und ich nur das vergangne35 „Gewölk. Ach der arme zerrinnende Menſch ruht drunten auf der
24 Jean Paul Briefe. I.
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höhere Weſen das für uns ſind, was wir für die Thiere — daß ſie mit
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Menſchen, nämlich um ſeine einſamen, und um ſeine wichtigſten
Gedanken, nämlich um ſeine ungehörten Wache ſtehen. Auch wüſt’ ich
nichts, was der arme Menſch in der brauſenden Waldung des Lebens 5
mitten unter Thieren — Irſteigen — wilden Jägern — Stürmen und
fallenden Bäumen nöthiger hätte als eine unſichtbare Hand, an der er
williger und richtiger geht als an allen ſichtbaren. — —
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Der Genius. 10
In der Mitternacht, die zwiſchen zwei Jahren liegt, wird die Sand-
uhr des alten umgeſtürzt — Alle Genien der ſchlafenden Menſchen
ziehen in den Mond und fallen nieder vor einem Thron, um den ein
ewiger Schimmer und Zephyr flattert; für den, der ſich darauf verhült,
hat der Endliche keinen Namen. Jeder Genius führet hinter ſich die 15
365 Wolken, durch die er ſeinen Menſchen zog...
Ich wende mein Auge mit Schauer von den andern Genien dieſes
Jahres, die mit volgebluteten Wolken, auf welche Leichname und
Glieder geworfen waren, vor den ſtummen Thron des Schikſals
giengen; und ich ſehe blos den friedlichern Genius an, der Deine 20
Wolken, A., beherſchte und leitete.
Dein Genius ſchimmerte wie eine Sonne im Regenbogenkreis von
Wolken, die nun auf ewig von der engen Erde in die weite Ewigkeit
geflogen ſind. Er ſah mit einem Auge den immer um ihn wirbelnden
Wolken nach und zählte die, auf denen eine Abendröthe, eine Neben- 25
ſonne, ein Regenbogen glimte — er wolte noch länger zählen, aber er
muſte ſeinen Blik vol Liebe von denen abziehen, in denen Regentropfen,
Nebel und Dunkel niederhiengen. —
Erhaben und langſam zogen jezt aus der tiefen Ewigkeit in langer
Reihe die künftigen 365 Wolken eines jeden von uns, in denen ſo 30
mancher Bliz, ſo manches Eis auf unſern unbeſchirmten Buſen
wartet. — —
Dein Genius ſchlug das Auge an dem ſtummen Throne deſſen
nieder, den zwei Ewigkeiten umgeben, und ſagte: „Ewiger, durch den
„ichs bin! Du ſiehſt das zukünftige und ich nur das vergangne 35
„Gewölk. Ach der arme zerrinnende Menſch ruht drunten auf der
24 Jean Paul Briefe. I.
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
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Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T14:52:17Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T14:52:17Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 1. Berlin, 1956, S. 369. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe01_1956/397>, abgerufen am 02.07.2024.
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