Ihren Brief über meinen Aufsaz kan ich nicht eher beantworten bis dieser aus der Presse ist, d. h. in 4 Wochen: ich mus mich überal5 beziehen. Aber meine Sanitätsanstalt ist nicht gegen den gewöhn- lichen Has ungebesserter Menschen sondern gegen die feindseligen Regungen, die gerade die edelste weichste Brust am ersten beim Anblicke des Lasters erhizen. Mein Mittel ist unfehlbar: das weis ich an mir. Die Moral kan mir wol die Besiegung, aber nicht die Er-10 schaffung einer Neigung in der Minute gebieten. Sie kan uns be- fehlen, dem Feinde Gutes zu thun; aber sie kan nicht befehlen, etwas anders gegen ihn zu fühlen als wir fühlen. Sie kan nicht sagen: fühle, empfinde. Aber durch meine klinische Anstalt bring' ich mich dahin, mein Gefühl zu ändern, indem ich meinen Standpunkt ändere. Kurz15 im künftigen Frühling, in dem ganze Gärten von Blumen für mich liegen, wil ich zwischen Ihnen und dem Buche sizend, und Ihren Brief in der einen Hand und den Verfasser in der andern haltend über alles weiter reden und fechten. -- Der Erziehung schreib' ich viel weniger zu als Sie. Die besten Menschen kamen nicht aus den Händen der besten20 Hofmeister und Eltern, sondern gerade aus denen der Natur. 8 Kinder kommen aus 1 Philanthropin oder auch Elternhause; die Hälfte als Rekruten der Hölle, die andere, des Himmels. Wie, sollen die pedan- tischen Lehren der Lehrer auf das ungebildete Kind mehr wirken als die schönsten geliebtesten in den Büchern auf den gebildeten Menschen?25 Und doch wie selten bekehret ein Buch. Zweitens die grösten Um- wälzungen im Menschen fallen nach der pädagogischen Epoche: wer ersezt denn hier den Erzieher? -- Die besten Völker hatten die schlechtesten Schulen -- die Griechen, Römer und Engländer -- und wir werden mit allen unsern bessern Schulen wol gelehrter, aber30 [127]nicht besser. Kurz damit der Mensch gut werde, braucht er ein lebenslanges Pädagogium, nämlich einen -- Staat. So lange unsere Regierungsform sich nicht so ändert, daß aus Sklaven Menschen, aus Egoisten Freunde des Vaterlandes werden -- so lange uns nicht der Staat und der Ruhm darin ein Motiv wird, gros zu35 handeln -- so lange der Reichthum geachtet wird, (und das mus so lange dauern als die Sklaverei die Mittel erschweret, nicht zu ver-
195. An Emanuel.
Hof d. 18 9bre 1795.
Mein Theuerer,
Ihren Brief über meinen Aufſaz kan ich nicht eher beantworten bis dieſer aus der Preſſe iſt, d. h. in 4 Wochen: ich mus mich überal5 beziehen. Aber meine Sanitätsanſtalt iſt nicht gegen den gewöhn- lichen Has ungebeſſerter Menſchen ſondern gegen die feindſeligen Regungen, die gerade die edelſte weichſte Bruſt am erſten beim Anblicke des Laſters erhizen. Mein Mittel iſt unfehlbar: das weis ich an mir. Die Moral kan mir wol die Beſiegung, aber nicht die Er-10 ſchaffung einer Neigung in der Minute gebieten. Sie kan uns be- fehlen, dem Feinde Gutes zu thun; aber ſie kan nicht befehlen, etwas anders gegen ihn zu fühlen als wir fühlen. Sie kan nicht ſagen: fühle, empfinde. Aber durch meine kliniſche Anſtalt bring’ ich mich dahin, mein Gefühl zu ändern, indem ich meinen Standpunkt ändere. Kurz15 im künftigen Frühling, in dem ganze Gärten von Blumen für mich liegen, wil ich zwiſchen Ihnen und dem Buche ſizend, und Ihren Brief in der einen Hand und den Verfaſſer in der andern haltend über alles weiter reden und fechten. — Der Erziehung ſchreib’ ich viel weniger zu als Sie. Die beſten Menſchen kamen nicht aus den Händen der beſten20 Hofmeiſter und Eltern, ſondern gerade aus denen der Natur. 8 Kinder kommen aus 1 Philanthropin oder auch Elternhauſe; die Hälfte als Rekruten der Hölle, die andere, des Himmels. Wie, ſollen die pedan- tiſchen Lehren der Lehrer auf das ungebildete Kind mehr wirken als die ſchönſten geliebteſten in den Büchern auf den gebildeten Menſchen?25 Und doch wie ſelten bekehret ein Buch. Zweitens die gröſten Um- wälzungen im Menſchen fallen nach der pädagogiſchen Epoche: wer erſezt denn hier den Erzieher? — Die beſten Völker hatten die ſchlechteſten Schulen — die Griechen, Römer und Engländer — und wir werden mit allen unſern beſſern Schulen wol gelehrter, aber30 [127]nicht beſſer. Kurz damit der Menſch gut werde, braucht er ein lebenslanges Pädagogium, nämlich einen — Staat. So lange unſere Regierungsform ſich nicht ſo ändert, daß aus Sklaven Menſchen, aus Egoiſten Freunde des Vaterlandes werden — ſo lange uns nicht der Staat und der Ruhm darin ein Motiv wird, gros zu35 handeln — ſo lange der Reichthum geachtet wird, (und das mus ſo lange dauern als die Sklaverei die Mittel erſchweret, nicht zu ver-
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195. An Emanuel.
Hof d. 18 9bre 1795.
Mein Theuerer,
Ihren Brief über meinen Aufſaz kan ich nicht eher beantworten bis
dieſer aus der Preſſe iſt, d. h. in 4 Wochen: ich mus mich überal 5
beziehen. Aber meine Sanitätsanſtalt iſt nicht gegen den gewöhn-
lichen Has ungebeſſerter Menſchen ſondern gegen die feindſeligen
Regungen, die gerade die edelſte weichſte Bruſt am erſten beim
Anblicke des Laſters erhizen. Mein Mittel iſt unfehlbar: das weis ich
an mir. Die Moral kan mir wol die Beſiegung, aber nicht die Er- 10
ſchaffung einer Neigung in der Minute gebieten. Sie kan uns be-
fehlen, dem Feinde Gutes zu thun; aber ſie kan nicht befehlen, etwas
anders gegen ihn zu fühlen als wir fühlen. Sie kan nicht ſagen: fühle,
empfinde. Aber durch meine kliniſche Anſtalt bring’ ich mich dahin,
mein Gefühl zu ändern, indem ich meinen Standpunkt ändere. Kurz 15
im künftigen Frühling, in dem ganze Gärten von Blumen für mich
liegen, wil ich zwiſchen Ihnen und dem Buche ſizend, und Ihren Brief
in der einen Hand und den Verfaſſer in der andern haltend über alles
weiter reden und fechten. — Der Erziehung ſchreib’ ich viel weniger zu
als Sie. Die beſten Menſchen kamen nicht aus den Händen der beſten 20
Hofmeiſter und Eltern, ſondern gerade aus denen der Natur. 8 Kinder
kommen aus 1 Philanthropin oder auch Elternhauſe; die Hälfte als
Rekruten der Hölle, die andere, des Himmels. Wie, ſollen die pedan-
tiſchen Lehren der Lehrer auf das ungebildete Kind mehr wirken als
die ſchönſten geliebteſten in den Büchern auf den gebildeten Menſchen? 25
Und doch wie ſelten bekehret ein Buch. Zweitens die gröſten Um-
wälzungen im Menſchen fallen nach der pädagogiſchen Epoche:
wer erſezt denn hier den Erzieher? — Die beſten Völker hatten die
ſchlechteſten Schulen — die Griechen, Römer und Engländer — und
wir werden mit allen unſern beſſern Schulen wol gelehrter, aber 30
nicht beſſer. Kurz damit der Menſch gut werde, braucht er ein
lebenslanges Pädagogium, nämlich einen — Staat. So lange
unſere Regierungsform ſich nicht ſo ändert, daß aus Sklaven
Menſchen, aus Egoiſten Freunde des Vaterlandes werden — ſo lange
uns nicht der Staat und der Ruhm darin ein Motiv wird, gros zu 35
handeln — ſo lange der Reichthum geachtet wird, (und das mus ſo
lange dauern als die Sklaverei die Mittel erſchweret, nicht zu ver-
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
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Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 2. Berlin, 1958, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe02_1958/141>, abgerufen am 21.11.2024.
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