nehmen -- und das ist für meine Religionsparthei der heutige Tag; aber im Grunde ist ers auch für Sie, da doch jeder Tag der Geburtstag eines neuen und der Todestag eines alten Jahres ist. Indem mir jezt um 12 Uhr zu Nachts, wie bei einer Aukzion, das neue Jahr samt seinen Abendröthen und Abendgewittern zugeschlagen wird: denk' ich5 an Sie und an Ihren Brief und an meine Wünsche für Sie, die Ihnen alles geben möchten was ein schönes Herz verdient -- Und meine Wünsche sind, daß Ihnen die Gegenwart so magisch werde wie eine Erinnerung oder eine Hofnung, diese Dekorazionsmalerinnen unserer düstern Minuten -- und daß Sie für die Sehnsucht, die in jeder aus-10 gedehnten Seele wohnt, auf dieser Erde nicht Stillung sondern Nah- rung suchen, weil gerade das Bessere im Menschen, d. h. sein Hunger nach einer hier unsichtbaren Tugend, Freude und Weisheit ihm seine Verpflanzung in eine reichere Welt verbürgt -- und daß Sie aus der Hand der Tugend jene stumme Glükseligkeit empfangen, deren Ent-15 behrung man durch die laute verlarvt ...
Es giebt eine sanfte Melancholie die das Auge mehr schimmernd als nas macht und die unsere guten Vorsäze mit langsamen Augentropfen befruchtet -- sie gleicht dem stillen dünnen Regen, der der fruchtbarste[36] ist. Diese Melancholie ergreift uns in der lezten Minute eines an20 Glockenseilen in die Ewigkeit hinabgelassenen Jahres -- und die kalten Glieder der Todten, die wir verloren haben, berühren dan unsere Seele und heilen ihre Mängel.
Ich sage zugleich: eine gute Nacht! und ein gutes Jahr! -- Und bin und bleibe25
Ihr Freund Richter.
N. S. Indem ich am neuen Jahre meinen ungestümen Brief überlese: wünsch' ich daß Sie diesen freien Ausgus meiner Nacht-30 gefühle für ein Zeichen eines schrankenlosen Vertrauens auf Ihre Seele halten -- daß Sie mir die Kürze des Briefes vergeben, der Ihren gütigen und schönen nicht genug erwiedert -- und daß wir Briefe nicht wie Visitten gegen einander berechnen, und daß darum keiner von uns schweige, weil etwan der andere schweigt. Renate hat35 mir schon 2 mal in Ihrem Namen Hofnungen zu Ihren Briefen ge-
nehmen — und das iſt für meine Religionsparthei der heutige Tag; aber im Grunde iſt ers auch für Sie, da doch jeder Tag der Geburtstag eines neuen und der Todestag eines alten Jahres iſt. Indem mir jezt um 12 Uhr zu Nachts, wie bei einer Aukzion, das neue Jahr ſamt ſeinen Abendröthen und Abendgewittern zugeſchlagen wird: denk’ ich5 an Sie und an Ihren Brief und an meine Wünſche für Sie, die Ihnen alles geben möchten was ein ſchönes Herz verdient — Und meine Wünſche ſind, daß Ihnen die Gegenwart ſo magiſch werde wie eine Erinnerung oder eine Hofnung, dieſe Dekorazionsmalerinnen unſerer düſtern Minuten — und daß Sie für die Sehnſucht, die in jeder aus-10 gedehnten Seele wohnt, auf dieſer Erde nicht Stillung ſondern Nah- rung ſuchen, weil gerade das Beſſere im Menſchen, d. h. ſein Hunger nach einer hier unſichtbaren Tugend, Freude und Weisheit ihm ſeine Verpflanzung in eine reichere Welt verbürgt — und daß Sie aus der Hand der Tugend jene ſtumme Glükſeligkeit empfangen, deren Ent-15 behrung man durch die laute verlarvt ...
Es giebt eine ſanfte Melancholie die das Auge mehr ſchimmernd als nas macht und die unſere guten Vorſäze mit langſamen Augentropfen befruchtet — ſie gleicht dem ſtillen dünnen Regen, der der fruchtbarſte[36] iſt. Dieſe Melancholie ergreift uns in der lezten Minute eines an20 Glockenſeilen in die Ewigkeit hinabgelaſſenen Jahres — und die kalten Glieder der Todten, die wir verloren haben, berühren dan unſere Seele und heilen ihre Mängel.
Ich ſage zugleich: eine gute Nacht! und ein gutes Jahr! — Und bin und bleibe25
Ihr Freund Richter.
N. S. Indem ich am neuen Jahre meinen ungeſtümen Brief überleſe: wünſch’ ich daß Sie dieſen freien Ausgus meiner Nacht-30 gefühle für ein Zeichen eines ſchrankenloſen Vertrauens auf Ihre Seele halten — daß Sie mir die Kürze des Briefes vergeben, der Ihren gütigen und ſchönen nicht genug erwiedert — und daß wir Briefe nicht wie Viſitten gegen einander berechnen, und daß darum keiner von uns ſchweige, weil etwan der andere ſchweigt. Renate hat35 mir ſchon 2 mal in Ihrem Namen Hofnungen zu Ihren Briefen ge-
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nehmen — und das iſt für meine Religionsparthei der heutige Tag;
aber im Grunde iſt ers auch für Sie, da doch jeder Tag der Geburtstag
eines neuen und der Todestag eines alten Jahres iſt. Indem mir jezt
um 12 Uhr zu Nachts, wie bei einer Aukzion, das neue Jahr ſamt
ſeinen Abendröthen und Abendgewittern zugeſchlagen wird: denk’ ich 5
an Sie und an Ihren Brief und an meine Wünſche für Sie, die Ihnen
alles geben möchten was ein ſchönes Herz verdient — Und meine
Wünſche ſind, daß Ihnen die Gegenwart ſo magiſch werde wie eine
Erinnerung oder eine Hofnung, dieſe Dekorazionsmalerinnen unſerer
düſtern Minuten — und daß Sie für die Sehnſucht, die in jeder aus- 10
gedehnten Seele wohnt, auf dieſer Erde nicht Stillung ſondern Nah-
rung ſuchen, weil gerade das Beſſere im Menſchen, d. h. ſein Hunger
nach einer hier unſichtbaren Tugend, Freude und Weisheit ihm ſeine
Verpflanzung in eine reichere Welt verbürgt — und daß Sie aus der
Hand der Tugend jene ſtumme Glükſeligkeit empfangen, deren Ent- 15
behrung man durch die laute verlarvt ...
Es giebt eine ſanfte Melancholie die das Auge mehr ſchimmernd als
nas macht und die unſere guten Vorſäze mit langſamen Augentropfen
befruchtet — ſie gleicht dem ſtillen dünnen Regen, der der fruchtbarſte
iſt. Dieſe Melancholie ergreift uns in der lezten Minute eines an 20
Glockenſeilen in die Ewigkeit hinabgelaſſenen Jahres — und die
kalten Glieder der Todten, die wir verloren haben, berühren dan unſere
Seele und heilen ihre Mängel.
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Ich ſage zugleich: eine gute Nacht! und ein gutes Jahr! — Und bin
und bleibe 25
Ihr
Freund
Richter.
N. S. Indem ich am neuen Jahre meinen ungeſtümen Brief
überleſe: wünſch’ ich daß Sie dieſen freien Ausgus meiner Nacht- 30
gefühle für ein Zeichen eines ſchrankenloſen Vertrauens auf Ihre
Seele halten — daß Sie mir die Kürze des Briefes vergeben, der
Ihren gütigen und ſchönen nicht genug erwiedert — und daß wir
Briefe nicht wie Viſitten gegen einander berechnen, und daß darum
keiner von uns ſchweige, weil etwan der andere ſchweigt. Renate hat 35
mir ſchon 2 mal in Ihrem Namen Hofnungen zu Ihren Briefen ge-
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 2. Berlin, 1958, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe02_1958/52>, abgerufen am 16.02.2025.
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