über zürnen. Ich wil mich aber verstellen und ihm heute über seine briefliche Polygraphie ein Elog[ium] zuwerfen: "Auch schreibst du im Ganzen viel, wenn ich anders nach den Briefen urtheilen darf, die du kriegst und die deine Antworten voraussezen. Eigentlich mus man schon froh sein, wenn du nur eintunkst und hinschreibst: Neustadt den5 und den 95 und kein Wort weiter. Warlich ich bin so sehr auf den Anblik einer freundschaftlichen Hand ersessen, daß es mich befriedigen würde, wenn mir nur einer von Posttag zu Posttag ein Schreiben schikte des Inhalts: Der ich die Ehre habe zu verharren Ew. etc. Hundertmal geht man zu Bekanten, ohne etwas wicht[igeres] zu10 hören als den Brief Elenchus: der ich die Ehre [habe etc.] Denn das ist eben das gröste Glük des verwundeten und verarmten Menschen- geschlechts, daß unter 1000 etc. nur 1/2 Mensch weis, warum er den andern liebt und besucht. Die Menschen leben in den Tag hinein -- lernen in den Tag hinein -- lieben in den Tag hinein, ausgenommen15 der Exquintus alhie, der Leben, Lernen, Lieben bleiben lässet. -- Heute ist Bustag und ich bin lustig; aber gerade öffentliche Passionstage arten zu Fastnächten und noch mehr umgekehrt: wenn ein Volk über deinen Kopf hinüberjauchzet, wirst du am geneigtesten sein, in eine Laube zu gehen und beklommen der untergehenden Sonne oder einem20 [56]Würmgen auf d[er] Laube zuzuschauen. -- Störe mich nicht und lasse mich schreiben was mir beifält. Thue mir den Gefallen und schreibe mir einen Saz, den ich nicht glaube, damit ich ihn anfechten kan. -- das rastrierte Geäder der Gedankenstriche -- Gebährhaus der Druckerei[?] -- Thust du es nicht, so fall' ich Tropfen in die Hände (wenn sie nicht25 etwas schlimmers am Arme haben) und ich stehe einer ganz andern Partheilichkeit Preisgegeben -- Lob macht nur, daß man seine Stufe behauptet, Tadel aber, daß man eine höhere ersteigt -- Gegen deine kritischen placita und Erkentnisse würd' ich das beneficium appel- lationis oder doch leuterationis ergreifen -- Trät' ich in die kritische30 Vehme ein: ich würde keinen Teufel schonen, möcht' er laborieren oder kollaborieren -- Da [die] Berliner Bibliothek die grösseren Sünden thut als rügt: so solte man sich fragen, warum die genialischen Kunstrichter häufiger sein sollen als dergl. Autoren -- denn es ist ein Vorurtheil, daß der höhere Geschmak öfter zu finden als das höhere35 Genie. -- Der Prügel ist fort, aber der stachlichte Dornenstok grünt im Hause. Die alliierten Mächte werden ehe[r] Frieden machen als die
über zürnen. Ich wil mich aber verſtellen und ihm heute über ſeine briefliche Polygraphie ein Elog[ium] zuwerfen: „Auch ſchreibſt du im Ganzen viel, wenn ich anders nach den Briefen urtheilen darf, die du kriegſt und die deine Antworten vorausſezen. Eigentlich mus man ſchon froh ſein, wenn du nur eintunkſt und hinſchreibſt: Neuſtadt den5 und den 95 und kein Wort weiter. Warlich ich bin ſo ſehr auf den Anblik einer freundſchaftlichen Hand erſeſſen, daß es mich befriedigen würde, wenn mir nur einer von Poſttag zu Poſttag ein Schreiben ſchikte des Inhalts: Der ich die Ehre habe zu verharren Ew. ꝛc. Hundertmal geht man zu Bekanten, ohne etwas wicht[igeres] zu10 hören als den Brief Elenchus: der ich die Ehre [habe ꝛc.] Denn das iſt eben das gröſte Glük des verwundeten und verarmten Menſchen- geſchlechts, daß unter 1000 ꝛc. nur ½ Menſch weis, warum er den andern liebt und beſucht. Die Menſchen leben in den Tag hinein — lernen in den Tag hinein — lieben in den Tag hinein, ausgenommen15 der Exquintus alhie, der Leben, Lernen, Lieben bleiben läſſet. — Heute iſt Bustag und ich bin luſtig; aber gerade öffentliche Paſſionstage arten zu Faſtnächten und noch mehr umgekehrt: wenn ein Volk über deinen Kopf hinüberjauchzet, wirſt du am geneigteſten ſein, in eine Laube zu gehen und beklommen der untergehenden Sonne oder einem20 [56]Würmgen auf d[er] Laube zuzuſchauen. — Störe mich nicht und laſſe mich ſchreiben was mir beifält. Thue mir den Gefallen und ſchreibe mir einen Saz, den ich nicht glaube, damit ich ihn anfechten kan. — das raſtrierte Geäder der Gedankenſtriche — Gebährhaus der Druckerei[?] — Thuſt du es nicht, ſo fall’ ich Tropfen in die Hände (wenn ſie nicht25 etwas ſchlimmers am Arme haben) und ich ſtehe einer ganz andern Partheilichkeit Preisgegeben — Lob macht nur, daß man ſeine Stufe behauptet, Tadel aber, daß man eine höhere erſteigt — Gegen deine kritiſchen placita und Erkentniſſe würd’ ich das beneficium appel- lationis oder doch leuterationis ergreifen — Trät’ ich in die kritiſche30 Vehme ein: ich würde keinen Teufel ſchonen, möcht’ er laborieren oder kollaborieren — Da [die] Berliner Bibliothek die gröſſeren Sünden thut als rügt: ſo ſolte man ſich fragen, warum die genialiſchen Kunſtrichter häufiger ſein ſollen als dergl. Autoren — denn es iſt ein Vorurtheil, daß der höhere Geſchmak öfter zu finden als das höhere35 Genie. — Der Prügel iſt fort, aber der ſtachlichte Dornenſtok grünt im Hauſe. Die alliierten Mächte werden ehe[r] Frieden machen als die
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über zürnen. Ich wil mich aber verſtellen und ihm heute über ſeine
briefliche Polygraphie ein Elog[ium] zuwerfen: „Auch ſchreibſt du im
Ganzen viel, wenn ich anders nach den Briefen urtheilen darf, die du
kriegſt und die deine Antworten vorausſezen. Eigentlich mus man
ſchon froh ſein, wenn du nur eintunkſt und hinſchreibſt: Neuſtadt den 5
und den 95 und kein Wort weiter. Warlich ich bin ſo ſehr auf den
Anblik einer freundſchaftlichen Hand erſeſſen, daß es mich befriedigen
würde, wenn mir nur einer von Poſttag zu Poſttag ein Schreiben
ſchikte des Inhalts: Der ich die Ehre habe zu verharren Ew. ꝛc.
Hundertmal geht man zu Bekanten, ohne etwas wicht[igeres] zu 10
hören als den Brief Elenchus: der ich die Ehre [habe ꝛc.] Denn das iſt
eben das gröſte Glük des verwundeten und verarmten Menſchen-
geſchlechts, daß unter 1000 ꝛc. nur ½ Menſch weis, warum er den
andern liebt und beſucht. Die Menſchen leben in den Tag hinein —
lernen in den Tag hinein — lieben in den Tag hinein, ausgenommen 15
der Exquintus alhie, der Leben, Lernen, Lieben bleiben läſſet. — Heute
iſt Bustag und ich bin luſtig; aber gerade öffentliche Paſſionstage
arten zu Faſtnächten und noch mehr umgekehrt: wenn ein Volk über
deinen Kopf hinüberjauchzet, wirſt du am geneigteſten ſein, in eine
Laube zu gehen und beklommen der untergehenden Sonne oder einem 20
Würmgen auf d[er] Laube zuzuſchauen. — Störe mich nicht und laſſe
mich ſchreiben was mir beifält. Thue mir den Gefallen und ſchreibe
mir einen Saz, den ich nicht glaube, damit ich ihn anfechten kan. — das
raſtrierte Geäder der Gedankenſtriche — Gebährhaus der Druckerei[?]
— Thuſt du es nicht, ſo fall’ ich Tropfen in die Hände (wenn ſie nicht 25
etwas ſchlimmers am Arme haben) und ich ſtehe einer ganz andern
Partheilichkeit Preisgegeben — Lob macht nur, daß man ſeine Stufe
behauptet, Tadel aber, daß man eine höhere erſteigt — Gegen deine
kritiſchen placita und Erkentniſſe würd’ ich das beneficium appel-
lationis oder doch leuterationis ergreifen — Trät’ ich in die kritiſche 30
Vehme ein: ich würde keinen Teufel ſchonen, möcht’ er laborieren
oder kollaborieren — Da [die] Berliner Bibliothek die gröſſeren
Sünden thut als rügt: ſo ſolte man ſich fragen, warum die genialiſchen
Kunſtrichter häufiger ſein ſollen als dergl. Autoren — denn es iſt ein
Vorurtheil, daß der höhere Geſchmak öfter zu finden als das höhere 35
Genie. — Der Prügel iſt fort, aber der ſtachlichte Dornenſtok grünt
im Hauſe. Die alliierten Mächte werden ehe[r] Frieden machen als die
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
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Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 2. Berlin, 1958, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe02_1958/71>, abgerufen am 21.11.2024.
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