[I, 432]Ich schreib ihn für, nicht wider sie; aber mit einer Nieder-5 geschlagenheit, die mir den Unterschied zwischen den Schilderungen der erdichteten und der wahren Leiden zeigt. Wenn du einige meinen Brief beschliessende Stellen aus ihrem heurigen Tagebuch gelesen hast (sie führt seit einigen Jahren eines): so wird deine Wärme sicher die meinige rechtfertigen. Beim -- zweiten Durchlesen meines Briefes10 bist du mit mir einig. Nims von mir an, mein lieber Christian: du behandelst sie für kleine Symptomen ihres Temperaments zu hart -- nicht zu hart nach deinem Rechte, aber nach dem ihrigen. Dich recht- fertigt ganz ihr Schein, aber sie ihr Inneres. Dieses hat so wenig mit jenem gemein, daß sie z. B. sonst (denn jezt lieben viele ihrer15 vorigen Feinde sie von Herzen, Eine Feindin ausgenommen) nur stolz aus einem gekränkten Gefühle war, weil sie sich in jeder Gesel- schaft verachtet glaubte. Und dieses glaubte sie, weil ihr Vater und ihr Hofmeister ihr so oft sagten, sie wäre "dum und häslich", daß sie es selber glaubte, bis Wernlein der immer verkanten Seele ihre Rechte20 gab. In einem solchen sarkastischen Hause, -- unter solchen pädago- gischen Mishandlungen -- unter der Wiederholung derselben in Frankfurt beim Boshaftesten Weibe und bei dessen dumsten Sohne -- konte nur das beste Herz nicht zum bittersten werden. Du soltest ihre stille Ergebung in die väterliche Härte, ihre unbegreifliche Geduld mit25 der brüderlichen Giftmischerei der Anspielungen und Thaten be- merken, ihre häusliche mit der ausserhäuslichen Raschheit kontra- stierende Sanf[t]muth gegen die Mägde, die wenn sie fort sind über alle im Hause klagen und sie ausnehmen und ihrentwegen die Stelle wieder suchen. Sie ist aus meiner Bekantschaft die einzige ihres Ge-30 schlechtes, der ich jedes Wort heilig glauben darf und die in den mislichsten Lagen zu keiner Wendung Zuflucht nimt als höchstens zum Schweigen. Eben diese stolze Unfähigkeit zur Verstellung (aber kein Has, denn sie ist zu sehr in ihre sanftern Träume eingesenkt, um jemand, nicht einmal die K. zu hassen) giebt nebst ihrem voreiligen35 Temperament ihrem Betragen gegen Personen, die blos ein höf- liches verdienen, einen zu aufrichtigen Anstrich; aber wie wenig Has
3. An Chriſtian Otto in Hof.
Schwarzenbach d. 13 Feb. 94.
Mein guter Chriſtian,
Mein Brief betrift die Amöne.
[I, 432]Ich ſchreib ihn für, nicht wider ſie; aber mit einer Nieder-5 geſchlagenheit, die mir den Unterſchied zwiſchen den Schilderungen der erdichteten und der wahren Leiden zeigt. Wenn du einige meinen Brief beſchlieſſende Stellen aus ihrem heurigen Tagebuch geleſen haſt (ſie führt ſeit einigen Jahren eines): ſo wird deine Wärme ſicher die meinige rechtfertigen. Beim — zweiten Durchleſen meines Briefes10 biſt du mit mir einig. Nims von mir an, mein lieber Chriſtian: du behandelſt ſie für kleine Symptomen ihres Temperaments zu hart — nicht zu hart nach deinem Rechte, aber nach dem ihrigen. Dich recht- fertigt ganz ihr Schein, aber ſie ihr Inneres. Dieſes hat ſo wenig mit jenem gemein, daß ſie z. B. ſonſt (denn jezt lieben viele ihrer15 vorigen Feinde ſie von Herzen, Eine Feindin ausgenommen) nur ſtolz aus einem gekränkten Gefühle war, weil ſie ſich in jeder Geſel- ſchaft verachtet glaubte. Und dieſes glaubte ſie, weil ihr Vater und ihr Hofmeiſter ihr ſo oft ſagten, ſie wäre „dum und häslich“, daß ſie es ſelber glaubte, bis Wernlein der immer verkanten Seele ihre Rechte20 gab. In einem ſolchen ſarkaſtiſchen Hauſe, — unter ſolchen pädago- giſchen Mishandlungen — unter der Wiederholung derſelben in Frankfurt beim Boshafteſten Weibe und bei deſſen dumſten Sohne — konte nur das beſte Herz nicht zum bitterſten werden. Du ſolteſt ihre ſtille Ergebung in die väterliche Härte, ihre unbegreifliche Geduld mit25 der brüderlichen Giftmiſcherei der Anſpielungen und Thaten be- merken, ihre häusliche mit der auſſerhäuslichen Raſchheit kontra- ſtierende Sanf[t]muth gegen die Mägde, die wenn ſie fort ſind über alle im Hauſe klagen und ſie ausnehmen und ihrentwegen die Stelle wieder ſuchen. Sie iſt aus meiner Bekantſchaft die einzige ihres Ge-30 ſchlechtes, der ich jedes Wort heilig glauben darf und die in den mislichſten Lagen zu keiner Wendung Zuflucht nimt als höchſtens zum Schweigen. Eben dieſe ſtolze Unfähigkeit zur Verſtellung (aber kein Has, denn ſie iſt zu ſehr in ihre ſanftern Träume eingeſenkt, um jemand, nicht einmal die K. zu haſſen) giebt nebſt ihrem voreiligen35 Temperament ihrem Betragen gegen Perſonen, die blos ein höf- liches verdienen, einen zu aufrichtigen Anſtrich; aber wie wenig Has
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3. An Chriſtian Otto in Hof.
Schwarzenbach d. 13 Feb. 94.
Mein guter Chriſtian,
Mein Brief betrift die Amöne.
Ich ſchreib ihn für, nicht wider ſie; aber mit einer Nieder- 5
geſchlagenheit, die mir den Unterſchied zwiſchen den Schilderungen der
erdichteten und der wahren Leiden zeigt. Wenn du einige meinen Brief
beſchlieſſende Stellen aus ihrem heurigen Tagebuch geleſen haſt (ſie
führt ſeit einigen Jahren eines): ſo wird deine Wärme ſicher die
meinige rechtfertigen. Beim — zweiten Durchleſen meines Briefes 10
biſt du mit mir einig. Nims von mir an, mein lieber Chriſtian: du
behandelſt ſie für kleine Symptomen ihres Temperaments zu hart —
nicht zu hart nach deinem Rechte, aber nach dem ihrigen. Dich recht-
fertigt ganz ihr Schein, aber ſie ihr Inneres. Dieſes hat ſo wenig
mit jenem gemein, daß ſie z. B. ſonſt (denn jezt lieben viele ihrer 15
vorigen Feinde ſie von Herzen, Eine Feindin ausgenommen) nur
ſtolz aus einem gekränkten Gefühle war, weil ſie ſich in jeder Geſel-
ſchaft verachtet glaubte. Und dieſes glaubte ſie, weil ihr Vater und
ihr Hofmeiſter ihr ſo oft ſagten, ſie wäre „dum und häslich“, daß ſie es
ſelber glaubte, bis Wernlein der immer verkanten Seele ihre Rechte 20
gab. In einem ſolchen ſarkaſtiſchen Hauſe, — unter ſolchen pädago-
giſchen Mishandlungen — unter der Wiederholung derſelben in
Frankfurt beim Boshafteſten Weibe und bei deſſen dumſten Sohne —
konte nur das beſte Herz nicht zum bitterſten werden. Du ſolteſt ihre
ſtille Ergebung in die väterliche Härte, ihre unbegreifliche Geduld mit 25
der brüderlichen Giftmiſcherei der Anſpielungen und Thaten be-
merken, ihre häusliche mit der auſſerhäuslichen Raſchheit kontra-
ſtierende Sanf[t]muth gegen die Mägde, die wenn ſie fort ſind über
alle im Hauſe klagen und ſie ausnehmen und ihrentwegen die Stelle
wieder ſuchen. Sie iſt aus meiner Bekantſchaft die einzige ihres Ge- 30
ſchlechtes, der ich jedes Wort heilig glauben darf und die in den
mislichſten Lagen zu keiner Wendung Zuflucht nimt als höchſtens zum
Schweigen. Eben dieſe ſtolze Unfähigkeit zur Verſtellung (aber kein
Has, denn ſie iſt zu ſehr in ihre ſanftern Träume eingeſenkt, um
jemand, nicht einmal die K. zu haſſen) giebt nebſt ihrem voreiligen 35
Temperament ihrem Betragen gegen Perſonen, die blos ein höf-
liches verdienen, einen zu aufrichtigen Anſtrich; aber wie wenig Has
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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
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Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 2. Berlin, 1958, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe02_1958/9>, abgerufen am 21.11.2024.
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