Wo ist dein Gedächtnis und dein Herz? -- Ich bin mit dem wärmsten Herz durch tausend Schranken verdamt, mehr seine Winter- als Sonnenseite zu zeigen, verdamt, geliebt und verkant zugleich zu werden.5 Meine (Frühlingshofnung) knospet schon unter dem Schnee und das Stadtleben ist mir jezt unsicht[barer] als der Mai.
210. An Jacobi.
Weimar d. 12 Febr. 99.
Geliebtester Jacobi! Da jeder Mensch seine eigne kürzere oder10 längere Fermate nach einem Briefe hat: so hab' ich mich bisher ge- tröstet. -- Und doch nur halb; ich habe sogar von der Winterkälte, diesem wahren Nerven-Vampyr, zumal bei fallendem Queksilber, traurige Ursachen Ihres Schweigens entlehnt. -- Vergeben Sie mir [173]wenigstens meinen Brief, der mir das Hoffen erleichtert; denn nun --15 einen so sonderbaren Chronometer hat das Herz -- datier ich meine Erwartungen der Antwort erst vom Posttage an, wo -- dieser Brief anlangt.
Mög' Ihre Antwort oder der Meskatalog meinen Wunsch er- hören! -- So sonderbar es klinge: Sie -- und etwan meine Braut --20 sind die einzigen Menschen, die ich noch in Europa suchen mag; Völker noch viele, aber keine Individuen mehr sucht am Ende die so oft belogne, und endlich der irdischen Schranken kundige Seele auf, in welche der Schmerz die Irthümer der unendlichen Sehnsucht ge- graben. --25
Schillers Piccolomini wurden hier als der 1 Theil des Wallen- steins gegeben. Der herlichen Sprache darin und vielen ächt poetischen bowlings-greens fehlen nur die Karaktere, die Entwiklung und die Einheit des Interesse. Beide Stücke sind wie die Zwillingstöchter in Ungarn an einander gewachsen, aber nur wie jene mit den Unter-30 leibern, die Oberleiber haben Köpfe und Herzen separat. Sie können das Duo-Dram wie eine bayersche Kreuzer Komödie, mit jeder Szene anfangen; und wie ich höre, wird der 2te Theil mit dem nach- geholten Ende des ersten künftig angehoben. -- Auch in diesem Werk spricht der himmelstürmende Titanen-Geist der Zeit, der sich von den35
209. An Eliſabeth Hänel in Leipzig.
[Kopie][Weimar, 12. Febr. 1799]
Wo iſt dein Gedächtnis und dein Herz? — Ich bin mit dem wärmſten Herz durch tauſend Schranken verdamt, mehr ſeine Winter- als Sonnenſeite zu zeigen, verdamt, geliebt und verkant zugleich zu werden.5 Meine (Frühlingshofnung) knoſpet ſchon unter dem Schnee und das Stadtleben iſt mir jezt unſicht[barer] als der Mai.
210. An Jacobi.
Weimar d. 12 Febr. 99.
Geliebteſter Jacobi! Da jeder Menſch ſeine eigne kürzere oder10 längere Fermate nach einem Briefe hat: ſo hab’ ich mich bisher ge- tröſtet. — Und doch nur halb; ich habe ſogar von der Winterkälte, dieſem wahren Nerven-Vampyr, zumal bei fallendem Quekſilber, traurige Urſachen Ihres Schweigens entlehnt. — Vergeben Sie mir [173]wenigſtens meinen Brief, der mir das Hoffen erleichtert; denn nun —15 einen ſo ſonderbaren Chronometer hat das Herz — datier ich meine Erwartungen der Antwort erſt vom Poſttage an, wo — dieſer Brief anlangt.
Mög’ Ihre Antwort oder der Meskatalog meinen Wunſch er- hören! — So ſonderbar es klinge: Sie — und etwan meine Braut —20 ſind die einzigen Menſchen, die ich noch in Europa ſuchen mag; Völker noch viele, aber keine Individuen mehr ſucht am Ende die ſo oft belogne, und endlich der irdiſchen Schranken kundige Seele auf, in welche der Schmerz die Irthümer der unendlichen Sehnſucht ge- graben. —25
Schillers Piccolomini wurden hier als der 1 Theil des Wallen- ſteins gegeben. Der herlichen Sprache darin und vielen ächt poetiſchen bowlings-greens fehlen nur die Karaktere, die Entwiklung und die Einheit des Intereſſe. Beide Stücke ſind wie die Zwillingstöchter in Ungarn an einander gewachſen, aber nur wie jene mit den Unter-30 leibern, die Oberleiber haben Köpfe und Herzen ſeparat. Sie können das Duo-Dram wie eine bayerſche Kreuzer Komödie, mit jeder Szene anfangen; und wie ich höre, wird der 2te Theil mit dem nach- geholten Ende des erſten künftig angehoben. — Auch in dieſem Werk ſpricht der himmelſtürmende Titanen-Geiſt der Zeit, der ſich von den35
<TEI><text><body><pbfacs="#f0166"n="156"/><divtype="letter"n="1"><head>209. An <hirendition="#g">Eliſabeth Hänel in Leipzig.</hi></head><lb/><notetype="editorial">[Kopie]</note><dateline><hirendition="#right">[Weimar, 12. Febr. 1799]</hi></dateline><lb/><p>Wo iſt dein Gedächtnis und dein Herz? — Ich bin mit dem wärmſten<lb/>
Herz durch tauſend Schranken verdamt, mehr ſeine Winter- als<lb/>
Sonnenſeite zu zeigen, verdamt, geliebt und verkant zugleich zu werden.<lbn="5"/>
Meine (Frühlingshofnung) knoſpet ſchon unter dem Schnee und das<lb/>
Stadtleben iſt mir jezt unſicht[barer] als der Mai.</p></div><lb/><divtype="letter"n="1"><head>210. An <hirendition="#g">Jacobi.</hi></head><lb/><dateline><hirendition="#right"><hirendition="#aq">Weimar</hi> d. 12 Febr. 99.</hi></dateline><lb/><p>Geliebteſter Jacobi! Da jeder Menſch ſeine eigne kürzere oder<lbn="10"/>
längere <hirendition="#aq">Fermate</hi> nach einem Briefe hat: ſo hab’ ich mich bisher ge-<lb/>
tröſtet. — Und doch nur halb; ich habe ſogar von der Winterkälte,<lb/>
dieſem wahren Nerven-Vampyr, zumal bei fallendem Quekſilber,<lb/>
traurige Urſachen Ihres Schweigens entlehnt. — Vergeben Sie mir<lb/><noteplace="left"><reftarget="1922_Bd3_173">[173]</ref></note>wenigſtens meinen Brief, der mir das Hoffen erleichtert; denn nun —<lbn="15"/>
einen ſo ſonderbaren Chronometer hat das Herz — datier ich meine<lb/>
Erwartungen der Antwort erſt vom Poſttage an, wo — dieſer Brief<lb/>
anlangt.</p><lb/><p>Mög’ Ihre Antwort oder der Meskatalog meinen Wunſch er-<lb/>
hören! — So ſonderbar es klinge: Sie — und etwan meine Braut —<lbn="20"/>ſind die einzigen Menſchen, die ich noch in Europa ſuchen mag; Völker<lb/>
noch viele, aber keine Individuen mehr ſucht am Ende die ſo oft<lb/>
belogne, und endlich der irdiſchen Schranken kundige Seele auf,<lb/>
in welche der Schmerz die Irthümer der unendlichen Sehnſucht ge-<lb/>
graben. —<lbn="25"/></p><p>Schillers Piccolomini wurden hier als der 1 Theil des Wallen-<lb/>ſteins gegeben. Der herlichen Sprache darin und vielen ächt poetiſchen<lb/><hirendition="#aq">bowlings-greens</hi> fehlen nur die Karaktere, die Entwiklung und die<lb/>
Einheit des Intereſſe. Beide Stücke ſind wie die Zwillingstöchter in<lb/>
Ungarn an einander gewachſen, aber nur wie jene mit den Unter-<lbn="30"/>
leibern, die Oberleiber haben Köpfe und Herzen ſeparat. Sie können<lb/>
das <hirendition="#g">Duo</hi>-Dram wie eine bayerſche Kreuzer Komödie, mit jeder<lb/>
Szene anfangen; und wie ich höre, wird der 2<hirendition="#sup">te</hi> Theil mit dem nach-<lb/>
geholten Ende des erſten künftig angehoben. — Auch in dieſem Werk<lb/>ſpricht der himmelſtürmende Titanen-Geiſt der Zeit, der ſich von den<lbn="35"/></p></div></body></text></TEI>
[156/0166]
209. An Eliſabeth Hänel in Leipzig.
[Weimar, 12. Febr. 1799]
Wo iſt dein Gedächtnis und dein Herz? — Ich bin mit dem wärmſten
Herz durch tauſend Schranken verdamt, mehr ſeine Winter- als
Sonnenſeite zu zeigen, verdamt, geliebt und verkant zugleich zu werden. 5
Meine (Frühlingshofnung) knoſpet ſchon unter dem Schnee und das
Stadtleben iſt mir jezt unſicht[barer] als der Mai.
210. An Jacobi.
Weimar d. 12 Febr. 99.
Geliebteſter Jacobi! Da jeder Menſch ſeine eigne kürzere oder 10
längere Fermate nach einem Briefe hat: ſo hab’ ich mich bisher ge-
tröſtet. — Und doch nur halb; ich habe ſogar von der Winterkälte,
dieſem wahren Nerven-Vampyr, zumal bei fallendem Quekſilber,
traurige Urſachen Ihres Schweigens entlehnt. — Vergeben Sie mir
wenigſtens meinen Brief, der mir das Hoffen erleichtert; denn nun — 15
einen ſo ſonderbaren Chronometer hat das Herz — datier ich meine
Erwartungen der Antwort erſt vom Poſttage an, wo — dieſer Brief
anlangt.
[173]
Mög’ Ihre Antwort oder der Meskatalog meinen Wunſch er-
hören! — So ſonderbar es klinge: Sie — und etwan meine Braut — 20
ſind die einzigen Menſchen, die ich noch in Europa ſuchen mag; Völker
noch viele, aber keine Individuen mehr ſucht am Ende die ſo oft
belogne, und endlich der irdiſchen Schranken kundige Seele auf,
in welche der Schmerz die Irthümer der unendlichen Sehnſucht ge-
graben. — 25
Schillers Piccolomini wurden hier als der 1 Theil des Wallen-
ſteins gegeben. Der herlichen Sprache darin und vielen ächt poetiſchen
bowlings-greens fehlen nur die Karaktere, die Entwiklung und die
Einheit des Intereſſe. Beide Stücke ſind wie die Zwillingstöchter in
Ungarn an einander gewachſen, aber nur wie jene mit den Unter- 30
leibern, die Oberleiber haben Köpfe und Herzen ſeparat. Sie können
das Duo-Dram wie eine bayerſche Kreuzer Komödie, mit jeder
Szene anfangen; und wie ich höre, wird der 2te Theil mit dem nach-
geholten Ende des erſten künftig angehoben. — Auch in dieſem Werk
ſpricht der himmelſtürmende Titanen-Geiſt der Zeit, der ſich von den 35
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T15:05:42Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T15:05:42Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 3. Berlin, 1959, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe03_1959/166>, abgerufen am 18.05.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.