Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 3. Berlin, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

Lebe wohl! Jezt schlägt die Stunde der Herderschen Buspredigt,
die ich besuche. Ich freue mich sehr auf meine liebe Amöne. Sie wird
mit grössern Schmerzen scheiden als sie erwartet.

*229. An Josephine von Sydow in Hinterpommern.
5

Ihr liebes Blat, gute Josephine, kam mir unter so vielen unschein-
baren Blättern, die mir täglich die Post zufährt, wie eine von der[189]
Abendsonne durchglühte Wolke mitten unter dem Heere von grauen
vor, die mehr auf die Erde als an den Himmel gehören. Die Bildung
eines schönen Herzens, eines energischen Geistes, einer warmen wunden10
Seele, die das Leben und seinen Frost erfahren, spricht in jeder Zeile
an mein Herz; und darum antwort' ich so zuversichtlich -- was ich nie
Anonymen thue -- Ihnen, die Sie aber kaum es mehr sind. Nein,
liebe Josephine, wir brauchen keine Jahre, um uns zu kennen, sondern
nur Gedanken.15

Ein Lorbeer hat grössern Werth, wenn man ihn aus einer weib-
lichen
und einer ausländischen Hand zugleich empfängt. Gleichwohl
hoff' ich und wünsch' ich, daß der Lorbeer (umgekehrt nach der Mytho-
logie) in eine Daphne sich verwandle; -- ich meine, ich bitte Sie um
Ihren Namen und um alle versprochene Oeuvres, worunter Sie ihn20
sezen.

Bei den drei ersten Strophen Ihres Lieds scheint das Deutsche die
schwache Uebersezung Ihres Französischen zu sein. Blos das sanfte
l'orne stört den schönen Eindruk. Aber in der vierten Strophe wünscht'
ich eine grössere Annäherung ans Original; "reste" "habite" -- diese25
synonyme Verdoppelung -- schwächt. In der fünften wird die Antithese
vermist, zwischen dem schmerzlichen Bewegen des Herzens und zwischen
der Ruhe am stumsten Orte.

Ich bitte Sie, verhülte Freundin, um frühe und ofne Antwort.
-- Meine Adresse war die rechte (Leipzig ausgenommen) -- ich bin30
nichts als ein Mensch, nur ein Autor -- noch nicht einmal ein Ver-
lobter; daher ich Pfingstkapitel schreibe, um es zu vergessen.

Leben Sie froh, gute Seele! Aber sagen Sie mir nicht mehr, daß
ich Sie niemals sehen werde. Die lebendige Gestalt volendet die irdische
Freundschaft; sonst könte man eben so gut die Freunde vor der Sünd-35
fluth lieben. --

Lebe wohl! Jezt ſchlägt die Stunde der Herderschen Buspredigt,
die ich beſuche. Ich freue mich ſehr auf meine liebe Amöne. Sie wird
mit gröſſern Schmerzen ſcheiden als ſie erwartet.

*229. An Joſephine von Sydow in Hinterpommern.
5

Ihr liebes Blat, gute Joſephine, kam mir unter ſo vielen unſchein-
baren Blättern, die mir täglich die Poſt zufährt, wie eine von der[189]
Abendſonne durchglühte Wolke mitten unter dem Heere von grauen
vor, die mehr auf die Erde als an den Himmel gehören. Die Bildung
eines ſchönen Herzens, eines energiſchen Geiſtes, einer warmen wunden10
Seele, die das Leben und ſeinen Froſt erfahren, ſpricht in jeder Zeile
an mein Herz; und darum antwort’ ich ſo zuverſichtlich — was ich nie
Anonymen thue — Ihnen, die Sie aber kaum es mehr ſind. Nein,
liebe Joſephine, wir brauchen keine Jahre, um uns zu kennen, ſondern
nur Gedanken.15

Ein Lorbeer hat gröſſern Werth, wenn man ihn aus einer weib-
lichen
und einer ausländiſchen Hand zugleich empfängt. Gleichwohl
hoff’ ich und wünſch’ ich, daß der Lorbeer (umgekehrt nach der Mytho-
logie) in eine Daphne ſich verwandle; — ich meine, ich bitte Sie um
Ihren Namen und um alle verſprochene Oeuvres, worunter Sie ihn20
ſezen.

Bei den drei erſten Strophen Ihres Lieds ſcheint das Deutſche die
ſchwache Ueberſezung Ihres Franzöſiſchen zu ſein. Blos das ſanfte
l’orne ſtört den ſchönen Eindruk. Aber in der vierten Strophe wünſcht’
ich eine gröſſere Annäherung ans Original; „reste“ „habite“ — dieſe25
ſynonyme Verdoppelung — ſchwächt. In der fünften wird die Antitheſe
vermiſt, zwiſchen dem ſchmerzlichen Bewegen des Herzens und zwiſchen
der Ruhe am ſtumſten Orte.

Ich bitte Sie, verhülte Freundin, um frühe und ofne Antwort.
— Meine Adreſſe war die rechte (Leipzig ausgenommen) — ich bin30
nichts als ein Menſch, nur ein Autor — noch nicht einmal ein Ver-
lobter; daher ich Pfingſtkapitel ſchreibe, um es zu vergeſſen.

Leben Sie froh, gute Seele! Aber ſagen Sie mir nicht mehr, daß
ich Sie niemals ſehen werde. Die lebendige Geſtalt volendet die irdiſche
Freundſchaft; ſonſt könte man eben ſo gut die Freunde vor der Sünd-35
fluth lieben. —

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="letter" n="1">
        <pb facs="#f0185" n="171"/>
        <p>Lebe wohl! Jezt &#x017F;chlägt die Stunde der <hi rendition="#aq">Herderschen</hi> Buspredigt,<lb/>
die ich be&#x017F;uche. Ich freue mich &#x017F;ehr auf meine liebe Amöne. Sie wird<lb/>
mit grö&#x017F;&#x017F;ern Schmerzen &#x017F;cheiden als &#x017F;ie erwartet.</p>
      </div><lb/>
      <div type="letter" n="1">
        <head>*229. An <hi rendition="#g">Jo&#x017F;ephine von Sydow in Hinterpommern.</hi></head><lb/>
        <dateline> <hi rendition="#right"><hi rendition="#aq">Weimar</hi> d. 23 März 1799.</hi> </dateline>
        <lb n="5"/>
        <p>Ihr liebes Blat, gute Jo&#x017F;ephine, kam mir unter &#x017F;o vielen un&#x017F;chein-<lb/>
baren Blättern, die mir täglich die Po&#x017F;t zufährt, wie eine von der<note place="right"><ref target="1922_Bd3_189">[189]</ref></note><lb/>
Abend&#x017F;onne durchglühte Wolke mitten unter dem Heere von grauen<lb/>
vor, die mehr auf die Erde als an den Himmel gehören. Die Bildung<lb/>
eines &#x017F;chönen Herzens, eines energi&#x017F;chen Gei&#x017F;tes, einer warmen wunden<lb n="10"/>
Seele, die das Leben und &#x017F;einen Fro&#x017F;t erfahren, &#x017F;pricht in jeder Zeile<lb/>
an mein Herz; und darum antwort&#x2019; ich &#x017F;o zuver&#x017F;ichtlich &#x2014; was ich nie<lb/>
Anonymen thue &#x2014; Ihnen, die Sie aber kaum es mehr &#x017F;ind. Nein,<lb/>
liebe Jo&#x017F;ephine, wir brauchen keine <hi rendition="#g">Jahre,</hi> um uns zu kennen, &#x017F;ondern<lb/>
nur <hi rendition="#g">Gedanken.</hi><lb n="15"/>
</p><lb/>
        <p>Ein Lorbeer hat grö&#x017F;&#x017F;ern Werth, wenn man ihn aus einer <hi rendition="#g">weib-<lb/>
lichen</hi> und einer <hi rendition="#g">ausländi&#x017F;chen</hi> Hand zugleich empfängt. Gleichwohl<lb/>
hoff&#x2019; ich und wün&#x017F;ch&#x2019; ich, daß der Lorbeer (umgekehrt nach der Mytho-<lb/>
logie) in eine Daphne &#x017F;ich verwandle; &#x2014; ich meine, ich bitte Sie um<lb/>
Ihren Namen und um alle ver&#x017F;prochene <hi rendition="#aq">Oeuvres,</hi> worunter Sie ihn<lb n="20"/>
&#x017F;ezen.</p><lb/>
        <p>Bei den drei er&#x017F;ten Strophen Ihres Lieds &#x017F;cheint das Deut&#x017F;che die<lb/>
&#x017F;chwache Ueber&#x017F;ezung Ihres Franzö&#x017F;i&#x017F;chen zu &#x017F;ein. Blos das &#x017F;anfte<lb/><hi rendition="#aq">l&#x2019;orne</hi> &#x017F;tört den &#x017F;chönen Eindruk. Aber in der vierten Strophe wün&#x017F;cht&#x2019;<lb/>
ich eine grö&#x017F;&#x017F;ere Annäherung ans Original; <hi rendition="#aq">&#x201E;reste&#x201C; &#x201E;habite&#x201C;</hi> &#x2014; die&#x017F;e<lb n="25"/>
&#x017F;ynonyme Verdoppelung &#x2014; &#x017F;chwächt. In der fünften wird die Antithe&#x017F;e<lb/>
vermi&#x017F;t, zwi&#x017F;chen dem &#x017F;chmerzlichen Bewegen des Herzens und zwi&#x017F;chen<lb/>
der Ruhe am &#x017F;tum&#x017F;ten Orte.</p><lb/>
        <p>Ich bitte Sie, verhülte Freundin, um frühe und ofne Antwort.<lb/>
&#x2014; Meine Adre&#x017F;&#x017F;e war die rechte (Leipzig ausgenommen) &#x2014; ich bin<lb n="30"/>
nichts als ein Men&#x017F;ch, nur ein Autor &#x2014; noch nicht einmal ein Ver-<lb/>
lobter; daher ich Pfing&#x017F;tkapitel &#x017F;chreibe, um es zu verge&#x017F;&#x017F;en.</p><lb/>
        <p>Leben Sie froh, gute Seele! Aber &#x017F;agen Sie mir nicht mehr, daß<lb/>
ich Sie niemals &#x017F;ehen werde. Die lebendige Ge&#x017F;talt volendet die irdi&#x017F;che<lb/>
Freund&#x017F;chaft; &#x017F;on&#x017F;t könte man eben &#x017F;o gut die Freunde vor der Sünd-<lb n="35"/>
fluth lieben. &#x2014;</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[171/0185] Lebe wohl! Jezt ſchlägt die Stunde der Herderschen Buspredigt, die ich beſuche. Ich freue mich ſehr auf meine liebe Amöne. Sie wird mit gröſſern Schmerzen ſcheiden als ſie erwartet. *229. An Joſephine von Sydow in Hinterpommern. Weimar d. 23 März 1799. 5 Ihr liebes Blat, gute Joſephine, kam mir unter ſo vielen unſchein- baren Blättern, die mir täglich die Poſt zufährt, wie eine von der Abendſonne durchglühte Wolke mitten unter dem Heere von grauen vor, die mehr auf die Erde als an den Himmel gehören. Die Bildung eines ſchönen Herzens, eines energiſchen Geiſtes, einer warmen wunden 10 Seele, die das Leben und ſeinen Froſt erfahren, ſpricht in jeder Zeile an mein Herz; und darum antwort’ ich ſo zuverſichtlich — was ich nie Anonymen thue — Ihnen, die Sie aber kaum es mehr ſind. Nein, liebe Joſephine, wir brauchen keine Jahre, um uns zu kennen, ſondern nur Gedanken. 15 [189] Ein Lorbeer hat gröſſern Werth, wenn man ihn aus einer weib- lichen und einer ausländiſchen Hand zugleich empfängt. Gleichwohl hoff’ ich und wünſch’ ich, daß der Lorbeer (umgekehrt nach der Mytho- logie) in eine Daphne ſich verwandle; — ich meine, ich bitte Sie um Ihren Namen und um alle verſprochene Oeuvres, worunter Sie ihn 20 ſezen. Bei den drei erſten Strophen Ihres Lieds ſcheint das Deutſche die ſchwache Ueberſezung Ihres Franzöſiſchen zu ſein. Blos das ſanfte l’orne ſtört den ſchönen Eindruk. Aber in der vierten Strophe wünſcht’ ich eine gröſſere Annäherung ans Original; „reste“ „habite“ — dieſe 25 ſynonyme Verdoppelung — ſchwächt. In der fünften wird die Antitheſe vermiſt, zwiſchen dem ſchmerzlichen Bewegen des Herzens und zwiſchen der Ruhe am ſtumſten Orte. Ich bitte Sie, verhülte Freundin, um frühe und ofne Antwort. — Meine Adreſſe war die rechte (Leipzig ausgenommen) — ich bin 30 nichts als ein Menſch, nur ein Autor — noch nicht einmal ein Ver- lobter; daher ich Pfingſtkapitel ſchreibe, um es zu vergeſſen. Leben Sie froh, gute Seele! Aber ſagen Sie mir nicht mehr, daß ich Sie niemals ſehen werde. Die lebendige Geſtalt volendet die irdiſche Freundſchaft; ſonſt könte man eben ſo gut die Freunde vor der Sünd- 35 fluth lieben. —

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription. (2016-11-22T15:05:42Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-11-22T15:05:42Z)

Weitere Informationen:

Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).

Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe03_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe03_1959/185
Zitationshilfe: Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 3. Berlin, 1959, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe03_1959/185>, abgerufen am 22.11.2024.