Ich fürchte, der Brief geht erst den 24. ab, deiner Namens- schwester Tag. -- Lies doch die meisten besonders neuesten Romane von Schilling, (besonders das Kleeblat von Laun und ihm) und Novalis Roman.
296. An Pfarrer Vogel in Artzberg.5
Meiningen d. 21. Jul. 1802.
Unvergeslicher, wenn auch nicht immer Unvergessener! Die Sünde ist die Strafe der Sünde; die neue Verzögerung die Strafe der alten. So bin ich denn genug gestraft für das böse Schweigen, das ich auf eine so wizige Zuschrift und ein so wiziges Contra-Exegeticum so10 lange beobachten konte. Ihr Geschenk fand mich in Berlin, mitten in den Lust-Wirbeln der grossen Stadt, der Bekantschaften und der erotischen dazu, die mich im Oktober durch das künftige Wort: Vater hindert, in Ihre Gegend zu kommen. Ich wolte mit meiner Frau eine Reliquien-Reise nach dem klassischen Boden meiner Jugend-15 jahre -- und also zu dem Ihrigen auch -- machen; sie wird auch ge- macht; aber nur um 1/2 Jahr später.
Ich bitte Sie, mich nicht mit meiner Nachahmung zu strafen, sondern recht bald an mich zu schreiben und recht viel über Ihre geistigen und leiblichen Kinder und über alles was Sie nahe20 berührt.
Ich habe durch eine zwanzigjährige Festigkeit endlich die Un- abhängigkeit und das ganze gelobte Land erkämpft, das anfangs nur eine Wolke war, dan unter einer lag und endlich lebendig da ist. Wenn ich einmal dazu gelange, mein Leben zu schreiben: so trit darin25 früh ein Pastor Vogel in Rehau auf die Bühne.
Das Kapitel Ihres Buchs, das die erste Brodverwandlung (für die 4000) darstelt, ist eines der wizigsten und besten. Übrigens würd' ich jezt -- troz aller Einigkeit über die historische Geburt der Offenbarungen -- doch ganz uneinig mit Ihnen über den Werth der30 Mutter dieser Geburt sein. Es ist wie mit dem Glauben an er-[183] scheinende Geister; nicht dessen Objekt ist wahr oder bedeutend; aber der Glaube selber ist eine Geister-Erscheinung, und keine zufällige After-Geburt, sondern ein heiliges rechtmässiges Kind aus dem Menschenherzen und an der Menschenbrust. --35
11*
Ich fürchte, der Brief geht erſt den 24. ab, deiner Namens- ſchweſter Tag. — Lies doch die meiſten beſonders neueſten Romane von Schilling, (beſonders das Kleeblat von Laun und ihm) und Novalis Roman.
296. An Pfarrer Vogel in Artzberg.5
Meiningen d. 21. Jul. 1802.
Unvergeslicher, wenn auch nicht immer Unvergeſſener! Die Sünde iſt die Strafe der Sünde; die neue Verzögerung die Strafe der alten. So bin ich denn genug geſtraft für das böſe Schweigen, das ich auf eine ſo wizige Zuſchrift und ein ſo wiziges Contra-Exegeticum ſo10 lange beobachten konte. Ihr Geſchenk fand mich in Berlin, mitten in den Luſt-Wirbeln der groſſen Stadt, der Bekantſchaften und der erotiſchen dazu, die mich im Oktober durch das künftige Wort: Vater hindert, in Ihre Gegend zu kommen. Ich wolte mit meiner Frau eine Reliquien-Reiſe nach dem klaſſiſchen Boden meiner Jugend-15 jahre — und alſo zu dem Ihrigen auch — machen; ſie wird auch ge- macht; aber nur um ½ Jahr ſpäter.
Ich bitte Sie, mich nicht mit meiner Nachahmung zu ſtrafen, ſondern recht bald an mich zu ſchreiben und recht viel über Ihre geiſtigen und leiblichen Kinder und über alles was Sie nahe20 berührt.
Ich habe durch eine zwanzigjährige Feſtigkeit endlich die Un- abhängigkeit und das ganze gelobte Land erkämpft, das anfangs nur eine Wolke war, dan unter einer lag und endlich lebendig da iſt. Wenn ich einmal dazu gelange, mein Leben zu ſchreiben: ſo trit darin25 früh ein Paſtor Vogel in Rehau auf die Bühne.
Das Kapitel Ihres Buchs, das die erſte Brodverwandlung (für die 4000) darſtelt, iſt eines der wizigſten und beſten. Übrigens würd’ ich jezt — troz aller Einigkeit über die hiſtoriſche Geburt der Offenbarungen — doch ganz uneinig mit Ihnen über den Werth der30 Mutter dieſer Geburt ſein. Es iſt wie mit dem Glauben an er-[183] ſcheinende Geiſter; nicht deſſen Objekt iſt wahr oder bedeutend; aber der Glaube ſelber iſt eine Geiſter-Erſcheinung, und keine zufällige After-Geburt, ſondern ein heiliges rechtmäſſiges Kind aus dem Menſchenherzen und an der Menſchenbruſt. —35
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Ich fürchte, der Brief geht erſt den 24. ab, deiner Namens-
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von Schilling, (beſonders das Kleeblat von Laun und ihm) und
Novalis Roman.
296. An Pfarrer Vogel in Artzberg. 5
Meiningen d. 21. Jul. 1802.
Unvergeslicher, wenn auch nicht immer Unvergeſſener! Die Sünde
iſt die Strafe der Sünde; die neue Verzögerung die Strafe der alten.
So bin ich denn genug geſtraft für das böſe Schweigen, das ich auf
eine ſo wizige Zuſchrift und ein ſo wiziges Contra-Exegeticum ſo 10
lange beobachten konte. Ihr Geſchenk fand mich in Berlin, mitten in
den Luſt-Wirbeln der groſſen Stadt, der Bekantſchaften und der
erotiſchen dazu, die mich im Oktober durch das künftige Wort:
Vater hindert, in Ihre Gegend zu kommen. Ich wolte mit meiner
Frau eine Reliquien-Reiſe nach dem klaſſiſchen Boden meiner Jugend- 15
jahre — und alſo zu dem Ihrigen auch — machen; ſie wird auch ge-
macht; aber nur um ½ Jahr ſpäter.
Ich bitte Sie, mich nicht mit meiner Nachahmung zu ſtrafen,
ſondern recht bald an mich zu ſchreiben und recht viel über Ihre
geiſtigen und leiblichen Kinder und über alles was Sie nahe 20
berührt.
Ich habe durch eine zwanzigjährige Feſtigkeit endlich die Un-
abhängigkeit und das ganze gelobte Land erkämpft, das anfangs
nur eine Wolke war, dan unter einer lag und endlich lebendig da iſt.
Wenn ich einmal dazu gelange, mein Leben zu ſchreiben: ſo trit darin 25
früh ein Paſtor Vogel in Rehau auf die Bühne.
Das Kapitel Ihres Buchs, das die erſte Brodverwandlung
(für die 4000) darſtelt, iſt eines der wizigſten und beſten. Übrigens
würd’ ich jezt — troz aller Einigkeit über die hiſtoriſche Geburt der
Offenbarungen — doch ganz uneinig mit Ihnen über den Werth der 30
Mutter dieſer Geburt ſein. Es iſt wie mit dem Glauben an er-
ſcheinende Geiſter; nicht deſſen Objekt iſt wahr oder bedeutend; aber
der Glaube ſelber iſt eine Geiſter-Erſcheinung, und keine zufällige
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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
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Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T15:08:29Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T15:08:29Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 4. Berlin, 1960, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe04_1960/170>, abgerufen am 16.02.2025.
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